Die Kunst zukunftsfähiger Politik: Abwägen und Entscheiden

von Andreas Novy und Richard Bärnthaler:

„[Freiheit] ist die Grunddominante aller sozialen Spekulation, obwohl – oder gerade darum weil – alles Soziale seinem innersten Wesen nach Bindung und nur als Bindung Verbindung und sohin die Negation der Freiheit ist. (…) Soll Gesellschaft, soll gar Staat sein, dann muss bindende Ordnung des gegenseitigen Verhaltens der Menschen gelten.“ (Hans Kelsen, 1925)

Eine seit den 1980er Jahren zunehmend dominante neoliberale Wirtschaftsordnung weitete die Unabhängigkeit internationaler Investoren und Konzernen von nationaler Politikgestaltung aus. Sie entzog somit soziale und ökonomische Fragen der demokratischen Willensbildung und unterwarf sie der Logik vermeintlich effizienter Marktprozesse. Diese Beschränkung von Handlungsspielräumen wurde als Postpolitik und Postdemokratie bezeichnet. Hyperglobalisierung beschnitt demokratische Entscheidungsspielräume, um Investoren und Konzernen Rechtssicherheit zu bieten. Und die europäische Wirtschaftsverfassung schrieb eine Marktordnung fest, die eine eigenständige Sozial-, Wirtschafts- und Industriepolitik sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene behindert: keine gemeinsame Grundversorgung und keine krisenfesten Lieferketten sind die Folge.

An die Stelle politischen Entscheidens traten individuelle Wahlentscheidungen auf diversen Märkten – von Konsumgütern bis zum Wählermarkt. Das Leitbild war nicht länger der/die am Gemeinwesen interessierte BürgerIn, sondern der/die KonsumentIn, deren Konsumentensouveränität oberste Priorität hatte. Anreize setzen: ja, aber Finger weg von „staatlichen Bevormundungen“! Das Verkehrssystem, zentrales Problemfeld der Klimapolitik, zeigt anschaulich, wie diese Marktlogik zukunftsfähige Politik verhindert. So ist aktuell die Bereitstellung von Mobilität oftmals ineffizient, da parallele, öffentlich finanzierte Infrastrukturen für motorisierten Individualverkehr (Straßen und Flughäfen) sowie öffentlichen Verkehr (insbesondere Bahn) weit verbreitet sind. Die Bilanz der CO2-Emissionen ergibt sich aus den Wahlentscheidungen Einzelner: nehme ich die Bahn, sind die Emissionen gering, fahre ich mit dem Auto, sind sie hoch, fliege ich, dann sind sie nochmals höher. Doch nur Politik kann, wie Daniel Hausknost und Willi Haas betonen, durch koordinierte Prozesse des Abwägens, der Auseinandersetzung und der kollektiven Willensbildung Rahmenbedingungen, Institutionen und Infrastrukturen schaffen, die dauerhaft Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten verändern. Der fehlende politische Handlungsraum untergrub politische Problemlösungskompetenz: Bewusstsein, Wollen, Können und Tun klafften auseinander – nirgends so offensichtlich wie in der Klimapolitik. 

Die Corona-Krise brachte einen Bruch, der sich schon länger andeutete, in seiner Heftigkeit doch überraschend kam: Politik definiert erneut Ziele, die sie auch mit durchaus radikalen Mitteln wie einer Quarantäne erreicht. Politik inszeniert sich als gemeinwohlorientiert (“Gesundheit ist wichtiger als Wirtschaft“), der Primat der Ökonomie wird verworfen. Neoliberale Argumente sind aus offiziellen Reden verbannt. Kein Nulldefizit, kein Sparen im Sozial- und Gesundheitsbereich, keine Seitenhiebe auf Geringverdienende. Stattdessen Appelle an Verantwortung und Gemeinsinn sowie Kritik an einer überzogenen Globalisierung und ein klares Bekenntnis, Gesundheit sei wichtiger als Wirtschaft. Die Abkehr von Jahrzehnten einer Sparlogik im Gesundheitsbereich scheint denkbar. Staaten beschließen, dass Firmen mit Sitz in Steueroasen keine Staatshilfen bekommen. Und einstimmig beschloss der österreichische Nationalrat, möglichst rasch die Übernahme von standortrelevanten bzw. kritischen Schlüsselunternehmen durch Investoren außerhalb der EU „einer verbesserten Investitionskontrolle zu unterziehen“. Aus der Krise solle sich Österreich „rausinvestieren“, meint Vizekanzler Kogler, in Abgrenzung zur gescheiterten Sparpolitik der Troika. 

In diesem Zeitfenster des Außergewöhnlichen liegt Potential für eine Neuausrichtung von Politik, die ihre Legitimation auf eine neue Basis stellt: Zukunftsfähig wäre eine Politik, die sowohl abwägt als auch entscheidet. Tatsächlich beobachten wir seit Wochen ein ständiges Abwägen unter Bedingungen großer Unsicherheit zwischen gesundheitlichen und anderen Kriterien: Ob bei Förderprogrammen, bei Öffnungsmöglichkeiten für Geschäfte und Schulen oder der Reisefreiheit. Expertenstäbe beraten und unterstützen bei der Entscheidungsfindung. Einher ging diese evidenzbasierte Politik mit raschen Entscheidungen der Regierungen. Dieses in der Ausnahmesituation einer Pandemie angewandte Politikmodell hat Vorbildcharakter, wie auch in anderen Krisen wie der Klimakrise zukunftsfähig agiert werden müsste. Wir sehen darin Ansatzpunkte für eine zukunftsfähige Politik mit Problemlösungskompetenz in komplexen Situationen.

Dies gerade auch deshalb, weil sich in Medien und Parlament seit der schrittweisen Öffnung die Kritik verschärfte. Fehler der Regierenden werden aufgedeckt, Intransparenz beklagt, Grundrechte eingefordert. Diverse Anliegen und Interessen einer pluralistischen Gesellschaft meldeten sich zu Wort. Abwägen und Entscheiden wird nicht länger der Regierung und ihren ExpertInnen überlassen, Öffentlichkeit, Medien und Parlament fordern Rechenschaft. Der Streit unter Fachleuten innerhalb und zwischen verschiedenen Disziplinen wird schärfer. Konsens bröckelt, Dissens nimmt zu. Das ist begrüßenswert, weil demokratische Gemeinwesen den Dissens genauso brauchen wie die Fähigkeit zum Kompromiss. Damit tritt aktuell die Kunst des Abwägens und Entscheidens in eine neue Phase. Fraglich ist, ob es gelingt, den eben kurzfristig hergestellten Primat der Politik auch unter Bedingungen pluralistischer Debatte aufrechtzuerhalten. 

Zukunftsfähige demokratische Politik verbindet die Kunst des Abwägens und Entscheidens, ein ständiger Balanceakt zwischen Individualität und Solidarität, zwischen Vielfalt und Gleichheit, zwischen Einschränkung und Ermöglichung. Eine lebendige Zivilgesellschaft und Opposition sowie eine Medienlandschaft, die öffentliche Debatten ermöglicht, sind hierfür eine Voraussetzung – eben hierin unterscheiden sich liberale von illiberalen Demokratien.

Hans Kelsen, Architekt der österreichischen Bundesverfassung von 1920, bezeichnete Freiheit als jenes Ideal, „von dem aus die unterschiedlichen Staatsformen seit jeher bestimmt wurden“. Er unterscheidet zwischen einem „germanischen“ und „antiken“ Freiheitsbegriff. Ersterer entspringt aus einem „staatsfeindlichem Ur-Instinkt“, der „das Individuum gegen die Gesellschaft stellt“. Diese sich ständig erweiternde, grenzenlose und bedingungslose Freiheit ist nicht verhandelbar. Sie ist negativ definiert, also als Abwesenheit jeglichen Zwanges. Demgegenüber konstituiert laut Kelsen die antike Freiheitsidee die komplexere „Freiheit der Demokratie“. Das politisch und sozial freie Subjekt ist immer ein dem Recht unterworfenes, denn „wo das ‚du sollst‘ des sozialen Imperativs bedingt wird durch das ‚wenn und was du willst‘ des Adressanten, verliert die Ordnung jeden sozialen Sinn.“ Dieses Recht selbst ist immer Ergebnis des Abwägens, ein Resultat von Kompromissen, das heißt: das „Zurückstellen dessen, was die zu Verbindenden trennt, zugunsten dessen, was sie verbindet“. Letzten Endes brauchen zukunftsfähige Gesellschaften für alle verbindliche Entscheidungen. Ohne auf den Schutz von Minderheiten zu verzichten, gilt die Mehrheitsregel. Wird dies im Namen von Individualität und Freiheit nicht akzeptiert, verkommt eben diese Freiheit zur Illusion. 

Andreas Novy und Richard Bärnthaler

Andreas Novy und Richard Bärnthaler arbeiten an der Wirtschaftsuniversität Wien am Institut für Multi-Level Governance and Development und haben zusammen mit Veronika Heimerl 2020 das Buch „Zukunftsfähiges Wirtschaften“ verfasst.

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Wenn wir Veränderungen wollen, … müssen wir sie laut und kompromisslos einfordern.