“Die Krise wird nicht umsonst gewesen sein…”
(Alexander Van der Bellen)
Die Welt im Umbruch
von Judith Kohlenberger, Adel-Naim Reyhani, Adib Reyhani und Gerd Valchars
Österreich durchlebt gerade die größte Krise der Zweiten Republik, wie Politiker*innen wiederholt betonen. Krisenhafte Momente der Vergangenheit wirken im Vergleich fast unbedeutend oder episodisch. “Ich habe die Integration der Geflüchteten als Herkulesaufgabe bezeichnet”, sagte AMS-Chef Johannes Kopf im ZiB-Interview, “Ich glaube, ich habe nicht gewusst, was eine Herkulesaufgabe ist.”
Zahllose geschichtliche Beispiele zeigen, dass Krisen nicht nur Zeiten der großen, scheinbar unbezwingbaren Aufgaben sind, sondern immer auch des Umbruchs. “Nach der Krise ist nicht vor der Krise”, hält Karl Aiginger in seinem Beitrag fest. Das lehren uns die großen Umwälzungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Neben viel bemühten Gemeinplätzen von der “Krise als Chance” eröffnet die jetzige Ausnahmesituation also auch die Möglichkeit, Grundannahmen darüber, wie unsere Gesellschaft sein kann und soll, neu zu denken und zu diskutieren. “Wann wird die Welt wieder ihren gewohnten Gang nehmen? Wird sie das überhaupt? Soll sie das überhaupt?”, bringt es die Schauspielerin Verena Altenberger auf den Punkt.
Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit für neue Gesellschaftsentwürfe, ja vielleicht sogar Utopien? Was können wir aus dem Jetzt ins Danach “hinüber” retten, was muss sich wieder und was soll sich nun endlich ändern? Wie sollen wir uns gegenüber Mitmenschen, Kolleg*innen und anderen Ländern in Zukunft verhalten? Wie wollen, sollen und können wir zukünftig arbeiten, wohnen, lernen, kommunizieren, einkaufen, leben und lieben? Was können wir über uns, unsere politischen Institutionen und die Gesellschaft lernen?
Bereits jetzt lässt sich erkennen, dass die Krise Potenziale in Einzelnen, Gemeinschaften und Institutionen offen legt und gegenseitige Abhängigkeiten in den Vordergrund rückt. Das Außergewöhnliche durchbricht die Distanz; altruistisches Handeln, Zusammenarbeit und Solidaritäten flackern auf unterschiedlichen Ebenen auf. Mitarbeiter*innen von Energieversorgern und Medien begeben sich in Selbstisolation, Nachbar*innen kaufen füreinander ein, Verlage und Büchereien machen Werke frei zugänglich, Wissenschafter*innen teilen Daten und Forschungsergebnisse untereinander. Viele weitere Beispiele ließen sich aufzählen. Der viel besungene nationale Schulterschluss der Politik ist mittlerweile zwar wieder abgeklungen, doch bleibt die Erfahrung, dass statt Wettkampf und Misstrauen auch Kooperation und Miteinander möglich sind. Die Krise führt uns vor Augen, dass wir alle im selben Boot sitzen und eine Gesellschaft bloß so stark ist wie ihr sprichwörtlich schwächstes Glied. Nur wenn alle Menschen die persönlichen, finanziellen, zeitlichen und psychosozialen Ressourcen haben, notwendige Eindämmungsmaßnahmen einzuhalten, werden diese auch den gewünschten Erfolg zeigen. Selten war es offensichtlicher, dass die kollektive Stärke der Gesellschaft von der Einheit abhängt, die sie im Handeln manifestieren kann.
Gleichzeitig wirkt die Corona-Krise aber auch desintegrativ, verdichtet und vergrößert lange davor bestehende Systemlücken, gesellschaftliche Problemfelder und Trennlinien. Aus dieser Perspektive gilt: 2020 darf sich nicht wiederholen. So sind viele der Tätigkeiten, die heute als systemrelevant und überlebenswichtig gelten und überwiegend von Frauen und Migrant*innen ausgeübt werden – von der Erntearbeit über den Lebensmittelverkauf bis hin zur Kranken- und Altenpflege – durch niedriges Einkommen und Prestige geprägt. Die Krise bringt auch menschliche Schwächen markanter hervor, legt Bruchstellen in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben offen und verrät die Unzulänglichkeit politischer Systeme und Institutionen. Gelebte zwischenmenschliche Solidarität und der Kampf um die letzte Klopapierrolle spielen sich mitunter gleichzeitig in derselben Supermarktfiliale ab. Die ersten Wochen der sozialen Isolation offenbaren zudem massive soziale Ungleichheiten in der Arbeits-, Familien- bis hin zur Wohnsituation, die jetzt noch stärker im öffentlichen und privaten Raum hervortreten. Auf zwischenstaatlicher Ebene verhindern nationale Egoismen den effektiven Schutz gesamter Bevölkerungen.
Die Entscheidungen und Übereinkünfte, die wir jetzt treffen, werden weitreichende Auswirkungen über die Krise hinaus haben und unsere Gesellschaft langfristig prägen. So gehen beispielsweise sowohl die Idee zur Gründung der Vereinten Nationen wie auch jene der europäischen Integration auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück. Die vielen Weggabelungen, die dieser Tage beschritten werden, sollten wir daher bewusst öffentlich diskutieren. Denn dieser Diskurs ist nicht nur Reflexion unseres Handelns und unserer Einstellungen – seine Inhalte und Qualität beeinflussen maßgeblich die uns umgebende Gesellschaft.
Das Zeitfenster der Krise kann also genutzt werden, um ein breit angelegtes und inklusives Gespräch zu führen, das sich durch eine Lernhaltung auszeichnet und auf der Logik gegenseitiger Abhängigkeiten aufbaut. Um Kräfte aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Medien sowie Kunst und Kultur unabhängig von parteipolitischen Interessen für diesen Zweck zu bündeln. Um uns zu fragen, was wir gerade jetzt über die vielfältigen Themen lernen können, die unsere Gesellschaft beschäftigen – von Demokratie und Menschenrechte, über Globalisierung, Wirtschaft und Digitalisierung, Gesellschaft und Gerechtigkeit, Umwelt und Gesundheit, Bildung und Wissenschaft, bis hin zu Religion und Ethik sowie Kunst und Kultur.
Dann kann sich bewahrheiten, was Bundespräsident Alexander Van der Bellen in seiner Rede jüngst festgehalten hat: “Die Krise wird nicht umsonst gewesen sein.”