Wenn wir Veränderungen wollen, … müssen wir sie laut und kompromisslos einfordern.

von Eva Surma:

Mit diesem Fazit schließt die Viva la Vulva Frontfrau, MA.MiS. for Politics and Economics, Sofia Surma, ihren Blogbeitrag im März 2020. Aber dürfen wir das noch? Dürfen wir noch etwas laut fordern, nach all den Wochen der Weisungen, die dann doch keine gewesen sein wollen? Rechtssicherheit präsentiert sich in Pandemie-Zeiten als heikles Gut. Es ist als hätten Ausgangsbeschränkungen eine umfassende Denkbeschränkung zur Folge.

Das Virus macht vor nichts und niemandem halt. Macht es uns alle gleich? Oder gibt es wieder einmal welche, die gleicher sind? Menschen, die mehr Freiheiten genießen als andere, die im Care-Verbund gefangen sind. Die Kleinen und die Kleinsten, die besonders die Alten und die Ältesten gefährden. Zu ihrem eigenen Schutz sperren wir sie weg. Sie sind die Vulnerablen, die gefährdeten GefährderInnen.

Wie lang ist ein Monat für ein Kleinkind, oder für jemanden mit Demenz? Selbst wenn wir es uns annähernd vorstellen könnten, dann zucken wir mit den Schultern und sagen: „Die Isolation ist zu ihrem Besten.“ oder „Es ist zum Wohle der Gesellschaft.“ Aber was ist eine Gesellschaft anderes, als ein Biotop, also ein Platz, an dem sich Leben verschiedenster Gestalt ins Gleichgewicht bringt und sich in ihm - und ihn mit sich - erhält? Unsere Sozietät ist ein unüberschaubares Biotop mit sehr spezifischen, schwer auszukundschaftenden Zusammenhängen und Wechselwirkungen, wie uns Greta Thunberg nachhaltig ins Bewusstsein rief. How dare you ... waren ihre Worte. Und wie haben wir sie in den letzten sechs Wochen umgesetzt?

Wir sind zu Wohnraumverbraucherinnen entwirklicht worden, wie sie Alexander Mitscherlich in seinem Pamphlet: Die Unwirtlichkeit der Städte schon 1965 skizzierte. Flauten (in unserem Fall die Bildungs- und Interaktionsflaute), schreibt Mitscherlich, „… wirken sich ungünstig auf die Steigerung des kritischen Bewusstseins aus. Wo keine affektive Anteilnahme besteht, wird sich kaum die Leidenschaft zur Gestaltung [der gesellschaftlichen Verhältnisse] und damit kein auf Präzision dringendes Problembewusstsein ausbreiten.“

Genau danach fragt auch Ruth Wodak in dem im Umbruch vorliegenden Artikel: Quo vadis, Europa? Denn scheinbar sucht man im europäischen Biotop gar nicht nach differenzierten und faktenbasierten Antworten, sondern möchte es allen recht machen. Allen Nationalstaaten, die selbst in Krisenzeiten jeweils ihr eigenes Süppchen kochen und sich wechselseitig den Zugang zu Masken verunmöglichen, sich aber gleichzeitig in täglich neuen Weisungen, die bei öffentlichkeitswirksamen Medienauftritten kundgetan werden, überbieten.

Wie SeniorInnen separiert in Altenheimen so leben auch unzählige Kinder ohne Anschluss an die pulsierende Gesellschaft, die doch eine interaktive und innovative europäische Gesellschaft sein sollte. Denn in Zeiten, in denen kein Mensch mehr ohne E-Mails berufstätig sein kann, existieren in Österreich tatsächlich immer noch Haushalte ohne Internetzugang und ohne funktional passende Endgeräte für die PflichtschülerInnen vor Ort. Man spricht davon, dass von 700 000 österreichischen PflichtschülerInnen mehr als 150 000 aus diesem Grund während der schulfreien Wochen gar nicht erreicht worden sind. Dieses Versäumnis macht das Virus uns klar. Seit Wochen redet man darüber, wie man solche Kinder wieder einbinden will – und nichts passiert. Alle hoffen, dass bald wieder alles „normal“ sein soll. Den Blutzoll des Virus, dass Alte verlassen sterben und Kinder aus bildungsfernen Haushalten ihre Zukunftschancen verlieren, nimmt man in Kauf. Kann man mit BildungsverliererInnen solidarisch sein?

Im Duden wird Solidarität als „unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele“ definiert, schreibt Sofia Surma in Solitude Solidarity: Was von der Solidaritätswelle nach Corona bleibt, um dann auszuführen, dass feministische Werte jene sind, die der ganzen Gesellschaft zu Gute kommen. Feminismus als menschenrechtsbasierte Ideologie wäre daher angebrachter als der Rückschritt zur Nationalstaatlichkeit.

 Je länger Corona regiert, desto klarer zeigt sich, dass wir europäische Werte und Ziele zwar verfolgen, die in unserer Verfassung festgeschrieben sind oder Verfassungsrang haben, wie die Europäische Menschenrechtskonvention, dass aber die Anstrengungen die dahingehend unternommen werden, dass alle in Österreich lebenden Menschen diese Ziele auch anstreben können, durchaus enden wollend sind.

„Schau auf dich, schau auf mich!“ Das ist der Slogan für eine Haltung, unhinterfragt hinzunehmen, was uns die Regierung gerade als opportun vor Augen führt. Und ansonsten sollen wir den Blick und die Stimme nicht erheben, wie Atwoods Magd, deren Lektüre in Zeiten wie diesen mehr als angesagt ist. Haben wir uns jahrelang gewundert, wie alles so und noch schlimmer werden konnte, als in Orwells 1984, so sehen wir nun, wie Frauen in eine Kultur gedrängt werden, die Atwood im Report der Magd schon vor 20 Jahren penibel beschrieben hat. Und auch dort kamen die Wende, die Regression, die strengen Maßnahmen zum Schutze der Gesellschaft, quasi über Nacht. Für die Entrechteten wurde viel geklatscht. Ein Déjà-vu!

Utopien als Innovationsmotor:

Einen ersten Schritt in eine Nach-Corona-Zukunft zeigt uns der anerkannte Virologe Christian Drosten auf. Viel Aufenthalt an der frischen Luft ist geboten, da das Virus, von dem man noch sehr wenig weiß, sich vor allem in geschlossenen und von vielen Personen besetzten Räumen gerne verbreitet. Wie wäre es, wenn die Stunden, die jetzt laut Lehrplan ausfallen, weil die Klassen halbiert werden müssen, also nur mehr halb so viel Unterricht vor Ort stattfinden kann wie vor der Krise, auf diese Art und Weise eingebracht würden: mit Ausflügen ins Grüne. Ein Punktesystem ließe sich rasch erarbeiten. Wie wäre es, wenn diese Ausflüge doppelt so hoch bewertet würden, wenn autochtone Jugend sie gemeinsam mit Jugendlichen anderer Muttersprache machten? Maximal in Vierergruppen, natürlich mit Abstand, wenn es sein muss sogar mit Mund- und Nasenschutz. So bekäme auch Bildung einen ganz anderen Stellenwert. Wir würden gemeinsam mit immer wechselnden und neuen sozialen Kontakten unsere nähere Umgebungen erkunden, besprechen, gemeinsam und einzeln reflektieren. Die Fantasie wieder ins Spiel zu bringen, so wie es Alexander Mitscherlich fordert.

Ein zweiter praktikabler Schritt erschließt sich mir aus der Lektüre des Wodak-Umbruch-Textes: Bildung europäisch machen. „Die EU besteht leider immer noch als ein Abstractum in den Gedanken aller Menschen. […] Dass wir alle Teil der EU sind, ist selbst nach so vielen Jahren noch nicht ins Allgemeinwissen eingedrungen.“ Es stimmt. Wir alle wissen zu wenig über die EU, über ihre Organe, über ihr Zustandekommen, ihr Wirken und ihre Möglichkeiten bezüglich Zukunftsgestaltung. Das bedeutet, dass Geschichte zum Fach Europa mutierte.

Ein folgerichtiger dritter Schritt wäre es sodann, EU weite Task-Forces für SchülerInnen, für vulnerable Gruppen, für Alleinerziehende, … zu gründen und in Plattformen zusammenkommen zu lassen. Hier könnten neue Utopien generiert werden. Ideen, die längst schon diskutiert wurden, wie zum Beispiel das Erlernen einer weiteren EU-Sprache nach Wahl, könnten mit den Visionen eines umweltschonenden und nachhaltigen Tourismus gematcht und weiterentwickelt werden. Wir könnten Senioren-Au-pairs erfinden, die weltweit als EU-BotschafterInnen Careleistungen erbringen, die ihnen selbst Freude bereiten und Lebenssinn stiften.

Den Utopien wären also keine Grenzen gesetzt.

Eva Surma

Eva Surma ist Sprachtrainerin für Deutsch als Fremdsprache.

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Eine neue Wissenschaft? Universitäten und Forschung nach Corona