Eine neue Wissenschaft? Universitäten und Forschung nach Corona

von Clemens Binder:

Virolog*innen und Epidemolog*innen sprechen über Krankheitsausbreitungen, Jurist*innen geben rechtliche Einschätzungen zu Regierungsmaßnahmen ab und Ökonom*innen wagen einen Blick in die Zukunft, wie die Wirtschaft nach dem Lockdown aussehen wird. Manche Expert*innen wie der deutsche Virologe Christian Drosten werden regelrecht als Popstars gefeiert. In Zeiten von Corona hat wissenschaftliche Expertise also gute Konjunktur – man könnte meinen, die Wissenschaft definiert in der Krise ihre Rolle neu und stärker. Doch die öffentlichkeitswirksamen Auftritte einiger Wissenschafter*innen kaschieren, dass eigentlich das Gegenteil der Fall ist. Die Wissenschaft steckt in einer Krise und Corona verstärkt die Krisenaspekte enorm. Studierende und Forschende, die sich oftmals sowieso bereits in prekären Situationen befinden, sehen sich mit verschiedenen Situationen konfrontiert, die im Rahmen des derzeitigen Systems durchaus existenzbedrohend sein könnten. Die öffentliche Legitimität, die die Wissenschaft hoffentlich durch die zahlreichen Expert*innenauftritte bekommt sollte von Staaten sowie von Universitäten und Forschungseinrichtungen genutzt werden, Wissenschaft und Forschung neu zu denken, ausreichend zu finanzieren und damit Ungleichheiten und Prekarisierung zu beenden. Die Coronakrise ist hoffentlich ein Anlass, in Bereichen wie Lehre, Forschung und Forschungsförderung neue Wege einzuschlagen.

Die Lockdown-Maßnahmen rund um Covid-19 haben verschiedene Bereiche der Universitäts- und Forschungslandschaft getroffen. An prominentester Stelle steht hier sicherlich die Lehre - als Anfang bis Mitte März weltweit die Universitäten ihren Lehrbetrieb einstellten, lautete „Remote Teaching“ die Devise. Von einigen wurde dies als Chance gesehen, den tertiären Bildungssektor stärker zu digitalisieren. Allerdings haben sowohl Lehrende als auch Studierende über Schwierigkeiten mit den digitalen Tools berichtet, die Zugangsmöglichkeiten sind für Lehrende wie Studierende verschieden und oftmals abhängig von der ökonomischen Situation. Letzten Endes lebt universitäre Lehre vom direkten Austausch unter Studierenden, aber auch zwischen Studierenden und Lehrenden. In Staaten, in denen Universitäten hohe Studiengebühren verlangen wie den USA, befürchten Universitäten finanzielle Ausfälle da Studierende sich entschließen könnten, für „Remote Teaching“ nicht zu bezahlen. Für Einrichtungen, die stark von Studiengebühren für ihre Finanzierung abhängig sind, wäre dies fatal. Aus dieser Situation heraus ergeben sich mehrere Chancen – zuallererst sollte man das nicht nachhaltige Modell der Studiengebühren durch ausreichende staatliche Finanzierung von Universitäten ersetzen. Studiengebühren sind sowohl sozial exkludierend als auch nicht zielführend in dem Ziel, Qualität zu verbessern. Zusätzlich könnten die Defizite im digitalen Bereich so adressiert werden, dass auch die Präsenzlehre davon profitieren könnte. Die größte Problematik, die durch Lehre während Corona offengelegt wird, die Prekarisierung von jungen Forschenden und vor allem Frauen im akademischen Bereich, wird dadurch allerdings nicht zu lösen sein

Denn insbesondere für Lehrende mit Care-Aufgaben, also überwiegend Frauen, stellt sich die Situation, von zuhause zu unterrichten als schwierig dar. Und nicht nur im Bereich der Lehre, auch im Bereich der Forschung ist die oftmals geforderte Produktivität unmöglich, wenn beispielsweise Kinder betreut werden müssen. Wie eine Forscherin der Universität Florenz festhält, werden durch die Coronakrise bereits bestehende Geschlechterungleichheiten in der Academia massiv verstärkt, da Frauen den überwältigenden Großteil der Care-Arbeit übernehmen – dadurch werden die Karrierechancen für Frauen gemindert. Der Ursprung dieses Problems liegt in der bereits angesprochenen geforderten Produktivität – Professuren oder andere hohe Positionen werden nur aufgrund des wissenschaftlichen Outputs in Fachzeitschriften vergeben – und in der daraus resultierenden Prekarisierung im akademischen Bereich. Junge Forschende müssen oftmals unbezahlte Überstunden leisten, um überhaupt eine Chance auf einen Job wahren zu können. Die Coronakrise verschärft die Situation für junge Forschende weiter, Doktorand*innen mit befristeten Stellen oder Stipendien haben keine Möglichkeiten, ihre Forschung weiterzuführen, da beispielsweise Auslandsreisen, Befragungen oder Laborexperimente unmöglich sind, zusätzlich ist die Produktivität auch hier wieder für junge, fast ausschließlich weibliche Forschende mit Care-Arbeit unmöglich aufrechtzuerhalten – wie erste Beobachtungen auch bereits zeigen.  Hier muss es in der gesamten globalen Academia ein Umdenken geben, in welchem nicht lediglich der quantitative Output in ein paar Fachzeitschriften gezählt wird. Dazu benötigt es allerdings auch Umstrukturierungen in der Finanzierung – insbesondere zugunsten von Doktorand*innen und jungen Postdocs, für welche sich die Situation mangels Förderungsprogrammen besonders prekär darstellt. Es braucht langfristige Karrierewege anstatt des ständigen Prekariats, in welchem man mit Kettenverträgen und der ständigen Bedrohung des Endes der akademischen Karriere konfrontiert ist. Dies würde nicht nur vielen Menschen eine akademische Karriere ermöglichen, sondern auch Ungleichheiten im Gender-Bereich und in anderen Bereichen (beispielsweise soziale Herkunft oder Nationalität) reduzieren. 

Der Schlüssel für die Lösung dieser Probleme liegt – wie so oft – im finanziellen Bereich. Die angesprochene Legitimierung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Expert*innenauftritte sollte Staaten und auch die EU dazu anleiten, noch mehr Geld in Forschung zu investieren. Allerdings ist es gerade jetzt wichtig, nicht alle Forschungsausgaben auf die Lösung der Coronakrise und damit auf ein paar Felder zu beschränken (ein Streit darüber führte zum Rücktritt des Präsidenten des European Research Council), sondern Forschung in allen Bereichen zu fördern. Grundlagenforschung ist wichtig, um auf Herausforderungen vorbereitet zu sein, welche jetzt noch nicht abzuschätzen sind. Ohne Grundlagenforschung in der Virologie wäre beispielsweise niemals die Expertise vorhanden, die notwendig ist, die jetzige Krise zu verstehen. Die Krise zeigt auch auf, wie zentral interdisziplinäre Zugänge sind – es benötigt juristische, ökonomische und sozialwissenschaftliche Expertise, um die Breite der Aspekte der Gesellschaft zu verstehen. Nicht umsonst haben italienische Ärzt*innen im renommierten „New England Journal of Medicine“ eine neue Form der Gesundheitsversorgung gefordert, die weniger individualisierend sondern gesamtgesellschaftlich ausgerichtet ist. Es wäre also schon kurzfristig wünschenswert, wenn die EU beispielsweise im kommenden „Horizon Europe“ Forschungsrahmenprogramm Grundlagenforschung in allen Feldern fördert, anstatt sich auf angewandte Forschung zu beschränken, um derzeitige Probleme zu adressieren. Zweifelsohne ist angewandte Forschung äußerst wichtig – Grundlagenforschung darf allerdings nicht derart ins Hintertreffen geraten, wie das derzeit oft der Fall ist. 

Mehr Geld in der Forschung gepaart mit einem Umdenken weg von Produktivitätsmaßstäben und hin zu dem ursprünglichen Ziel der Wissenschaft – nämlich Wissen und Expertise methodisch zu erzeugen – könnten den großen Problemen der Prekarisierung und der Ungleichheit in der Academia ein Ende bereiten. Zwar bin ich skeptisch, dass Staaten nach der Krise mehr Geld in den Wissenschaftssektor investieren, das Gegenteil ist zu befürchten, aber sollten sie es tun, würde es der Wissenschaft die Möglichkeit geben, sich wieder stärker innerhalb der Gesellschaft zu positionieren, und aus verschiedenen Blickwinkeln die Gesellschaft auch auf die kommenden Herausforderungen vorzubereiten.


Clemens Binder

Clemens Binder ist Forscher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip) und PhD-Student am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Er ist Träger des DOC-Stipendiums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit dem Zusammenhang von Grenzsicherheitspolitik und Forschungspolitik in der Europäischen Union.

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