Ethische Triage

von Maria Katharina Moser:

Werte tragen. Sie sind die Basis, auf die jeder und jede Einzelne sein oder ihr Leben und auf der wir als Gesellschaft unser Zusammenleben aufbauen. Denn sie bieten Orientierung für Urteilsbildung und Handeln. So auch in der Corona-Krise. Was soll ich tun? Was sollen wir tun? Gerade in einer Krise, die uns mit einer bis dato nicht gekannten Situation, mit völlig neuen Problemen konfrontiert, stellt sich die zweite der vier berühmten kantschen Fragen. Meiner Beobachtung nach nimmt die Antwort auf die Grundfrage der Ethik in der öffentlichen politischen und medialen Debatte in Zeiten von Corona im Wesentlichen drei Formen an: die Form des moralischen Appells („Leben retten!“); die Form eines an Regeln orientierten moralischen Rigorismus, der einen Ausdruck findet in Beschimpfungen und Denunziation vermeintlicher RegelbrecherInnen; und die Form des ethischen Alarmismus, der sich vor allem in Zusammenhang mit Triage zeigt und in dieser einen Bruch mit der Menschenwürde aller Menschen als moralischem Fundament unserer Gesellschaft wähnt.

Hinter allen drei Formen scheint mir der Wunsch nach einer „reinen“ Ethik zu stehen, nach einem klaren und eindeutigen Urteil, was gut und richtig und folglich zu tun ist. Alle drei Formen werden jedoch weder unserer heutigen moralischen Grundsituation noch den ethischen Herausforderungen, vor die uns die Corona-Krise stellt, gerecht. Für moderne plurale demokratische Gesellschaften ist kennzeichnend, dass einerseits angesichts der Erweiterungen menschlicher Handlungsmöglichkeit und der immer komplexer werdenden Lebenswelt der Bedarf an ethischer Urteilsbildung steigt und es andererseits keine Instanz, Autorität oder Gruppe (mehr) gibt, die ethische Fragen letztgültig entscheiden könnte. Der Konflikt ist zum Signum der ethischen Grundsituation geworden, der Kompromiss zum Fluchtpunkt der Konfliktlösung. Ethik ist gerade dann gefordert, wenn sich kein eindeutig gutes und richtiges Urteil fällen lässt. In Situation, die unumgehbar zwiespältig sind.

Eben diese Zwiespältigkeit ignorieren der moralische Appell, Leben zu retten, der moralische Rigorismus und der moralische Alarmismus in Zeiten von Corona. Aus dem Blick geraten die Frage nach der konkreten Situation, in der moralisches Urteil getroffen wird, und der Prozess des Abwägens, der zu einer begründeten Entscheidung führt – beides Kernelemente einer Verantwortungsethik, wie sie für uns Heutige maßgeblich ist und auch in Zeiten von Corona sein sollte.

Ausgangspunkt von Verantwortungsethik ist der moralische Konflikt, die Dilemma-Situation. Wir sind verpflichtet, gleichzeitig A und B zu tun. Zum Beispiel: Häusliche Isolation und Dasein für Menschen, die mit Demenz oder Depressionen leben, der Zuwendung bedürfen und in einem anderen Haushalt oder einer Pflegeeinrichtung leben. Schutz vor Infektion von PflegeheimbewohnerInnen durch Besuchsverbote und Sorge für ihr psychosoziales Wohlbefinden, für das Begegnung von Angesicht zu Angesicht entscheidend ist. Oder eben auch wenn die Kapazitäten an Beatmungsgeräten und Intensivbetten nicht ausreichen, wie das etwas in Norditalien und im Elsass der Fall war, Patient Y und Patient X intensivmedizinisch zu versorgen.

Wir können aber nicht beides gleichzeitig tun. Wir müssen entscheiden. Jedenfalls und unumgänglich. Wir können nicht nicht entscheiden. Entscheiden heißt abwägen, in dem nach den Folgen gefragt wird: Mit welchen Folgen ist zu rechnen, wenn ich mich für strikte häusliche Isolation von Menschen mit Demenz oder Depressionen entscheide, und mit welchen, wenn ich mich für Zuwendung mit direktem Kontakt entscheide? Kann ich die Folgen für die seelische Gesundheit in Kauf nehmen, wenn ich mich für Isolation um der physischen Gesundheit willen entscheide? Kann ich die Folge der erhöhten Ansteckungsgefahr in Kauf nehmen, wenn ich mich für direkten Kontakt um der seelischen Gesundheit willen entscheide? Egal, wofür ich mich entscheide – immer werden gute Gründe dagegen sprechen. Es geht nicht darum, dass das Ergebnis des Abwägens moralisch einwandfrei ist – es geht vielmehr darum, sich dem mühsamen Prozess des Abwägens zu stellen, der konkreten Situation möglichst gerecht zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Und Verantwortung übernehmen heißt im Extremfall auch, dass die Entscheidung denen, die sie treffen müssen, die Bereitschaft zur Schuldübernahme abverlangt wird.

Ein solcher Extremfall ist die Triage. Triage wird eingesetzt in der Katastrophenmedizin und im Kriegsfall, wenn die Kapazitäten nicht ausreichen, alle PatientInnen gleichzeitig zu behandeln. Triage bedeutet Priorisieren. Im Fall von COVID-19 bedeutet Triage, dass ÄrztInnen entscheiden müssen, wer intensivmedizinisch behandelt werden soll und wer nicht, wenn es nicht ausreichend Intensivbetten und Beatmungsgeräte gibt. Klar ist: Solche Entscheidungen treffen zu müssen, ist so ziemlich die schlimmste Situation, in die ÄrztInnen kommen können. Um für diesen Ernstfall gerüstet zu sein, haben in vielen Ländern medizinische Fachgesellschaften Kriterien erarbeitet mit dem Ziel der Minimierung von Todesfällen. In Italien und im Elsass mussten diese Kriterien zur Anwendung kommen. Über die Kriterien muss sorgfältig reflektiert und diskutiert werden. Im Zentrum stehen dabei die klinischen Erfolgsaussichten – und in der Folge Verzicht auf Behandlung jener, bei denen keine oder sehr geringe Überlebensaussichten bestehen. Gerade bei COVID-19 sind die Überlebensaussichten stark abhängig von Vorerkrankungen – und die Wahrscheinlichkeit, Vorerkrankungen zu haben, steigt mit dem Alter. Eine Priorisierung allein aufgrund des Alters ist jedoch keinesfalls zulässig. In Berichterstattung und Debatten über Triage mit Begriffen wie „Auslese“, „Aussortieren der Alten“ oder „Euthanasie“ zu operieren, ist nicht angemessen, wird der Situation nicht gerecht. Wenn der Extremfall eintritt, müssen Entscheidungen getroffen werden. Unumgänglich. Und sie dürfen nicht missverstanden werden als Urteile über den Wert eines Lebens. Wir stehen vor einem moralischen Konflikt, in dem es keine Lösung gibt, die das Gewissen nicht belasten würde, bei der nicht ein (moralischer) Schaden in Kauf genommen müsste. Es ist ein moralisches Dilemma, wie es größer kaum sein kann.

(Im Übrigen, das sei der Vollständigkeit halber in Klammern angemerkt, bedeutet Verzicht auf intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen nicht, dass PatientInnen in einem Bett am Gang elendiglich ersticken müssten. Ob Triage, so der Extremfall eintritt und sie zur Anwendung kommen muss, in eine moralische Katastrophe führt, die nicht verantwortet werden kann, entscheidet sich an der palliativen Versorgung von PatientInnen. Diese muss, das halten alle Handlungsempfehlungen medizinischer Fachgesellschaften zu COVID-19 klar und eindeutig fest, in jedem Fall sichergestellt sein.)

Was für Triage, ÄrztInnen und die Medizinethik gilt, gilt auch für Politik, PolitikerInnen und die politische Ethik: PolitikerInnen müssen Entscheidungen treffen und Maßnahmen setzen angesichts einer Krankheit, über die wir noch sehr wenig wissen. In einer Situation, in der es nicht die eine absolut richtige und gute Lösung gibt. Maßnahmen, die Ergebnis von Güterabwägungen sind. Eine politische Kommunikation, die darauf besteht, das einzig Richtige zu machen bzw. gemacht zu haben, hilft da nicht weiter. Der moralische Appell „Leben retten!“ greift zu kurz, er wird der Komplexität der Situation nicht gerecht. Was Not tut, ist eine politische Kommunikation, die den Konflikt und die Abwägungen transparent macht und benennt, was in Kauf genommen wird im Kampf gegen das Virus zum Schutz der Gesundheit: Einschränkungen der persönlichen Freiheit und „demokratische Zumutungen“ (Angela Merkel), Schaden für die Wirtschaft und steigende Armut, Gefährdung der seelischen Gesundheit durch soziale Isolation und der allgemeinen Gesundheit durch Einschränkungen der medizinischen Leistungen, um Kapazitäten vor Corona-Fälle vorzuhalten.

Das Ziel bleibt richtig und wichtig: Das Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch bewahren und besonders Verletzliche schützen. Gleichwohl bleibt die Aufgabe zu reflektieren: Um welchen Preis? Was können wir dafür in Kauf nehmen? Maßnahmen sind nie absolut, sondern Ergebnis einer Abwägung. Diese ist von der Politik immer wieder neu vorzunehmen – und zwar nicht nur in Krisenstäben hinter verschlossenen Türen, sondern auch öffentlich, transparent, im Diskurs. Dann werden sich auch die Bürger und Bürgerinnen auch leichter damit tun, nicht einen rigoristischen Umgang mit Regeln zu pflegen, sondern einen verantwortlichen, der fragt, wann es angezeigt ist, der Regel zu folgen, und wann eine Situation als legitime Ausnahme betrachtet werden kann.

Maria Katharina Moser 

Maria Katharina Moser ist Theologin und Direktorin der Diakonie Österreich.

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Die Kunst zukunftsfähiger Politik: Abwägen und Entscheiden