Über Menschenleben und ein Leben in Würde in Zeiten der Krise

von Monika Mokre

„Es gibt keine Alternative“, ist seit jeher ein Lieblingsausspruch neoliberaler Politik, der gerade neu definiert wird. Gab es bisher keine Alternative zu globalisierten Wirtschaftsströmen, ständigem Wachstum und steigender Ungleichheit, so gibt es jetzt keine Alternative zu Isolierung, Repression, Aufhebung von Datenschutz und Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit. Denn: Es geht um Menschenleben. Und Menschenleben sind das höchste Gut.

Manche Menschenleben. Denn zugleich hält die Covid-19-Krise in Österreich als Ausrede dafür her, die Grenzen gegenüber Geflüchteten zu schließen – als hätte es diese Ausrede noch gebraucht, stellte doch der Grenzschutz schon lange vor der Pandemie eine Priorität der vorigen wie der derzeitigen Regierung dar, der die Erhaltung von Menschenleben offensichtlich untergeordnet ist. Und auch Seenotrettung gilt bekanntlich seit längerem als strafrechtlich untersagt und/oder als Pull-Faktor.

Ein Virus allerdings hält sich nicht an diese Differenzierung zwischen wertvollen und wertlosen Menschenleben. Er nistet sich ein, wo er kann. Dass ihm das unterschiedlich leicht und mit unterschiedlichen Auswirkungen gelingt, ist ihm nicht anzurechnen. Das liegt daran, wie gut Menschen sich schützen können und wie anfällig sie sind, was sehr häufig an unserem alternativlosen ökonomischen und politischen System liegt.

Interessanterweise stellt nun die neue Alternativlosigkeit eine Alternative zur üblichen Alternativlosigkeit dar: Zum Schutz von Menschenleben werden Produktion und Konsum heruntergefahren – oder geht es hier um den Schutz künftiger Produktion und künftigen Konsums? #Bleibzuhause statt #Shoppingmachthappy ist jedenfalls das Motto der Stunde, das uns per Regierungsdekret, Massen- und sozialen Medien entgegenschallt. Und: Achte auf deine Symptome, lass dich ärztlich beraten, um dich und andere zu schützen.

Was aber, wenn jemand kein Zuhause hat, weil er_sie obdachlos ist? Was, wenn dieses Zuhause nicht sicher ist, weil es eine überbelegte Massenunterkunft ist? Was, wenn dieses Zuhause gerade in Gefahr ist, weil man die Miete nicht zahlen kann? Was, wenn das Gesundheitssystem nicht offensteht, weil man per Gesetz oder finanzieller Lage davon ausgeschlossen ist? Hier greift Repression nicht um Menschenleben zu schützen. Und dies betrifft nicht nur diejenigen, die als nicht schützenswert ausgeschlossen werden, sondern auch diejenigen, die eigentlich geschützt werden sollen – wie erwähnt: Ein Virus verbreitet sich ohne Rücksicht auf Differenzierung.

Daher lässt sich nicht nur aus humanitären, sondern durchaus auch aus zweckrationalen Gründen argumentieren, dass nur der Schutz aller ein sinnvoller Schutz ist. Dies wurde in einigen Teilen der Welt erkannt und umgesetzt. In vielen Städten etwa – z.B. in London, Paris, Düsseldorf und in vielen US-amerikanischen Städten – wurden die ohnehin leerstehenden Hotels für Obdachlose geöffnet, um Isolierung möglich zu machen. Auch Cannes hat zu diesem Zweck den Festivalpalast zur Verfügung gestellt. Aus Wien hören wir dazu bisher nur, dass die Notschlafstellen auch tagsüber geöffnet sind.

In Bremen wurden Geflüchtete aus einem großen Lager in eine Jugendherberge verlegt. Viele andere deutsche Lager bleiben allerdings geschlossen, in manchen von ihnen kommt es derzeit zu Hungerstreiks, jüngst etwa in Halberstadt. In Österreich wurde das Lager in Traiskirchen abgeriegelt und neu ankommende Geflüchtete kommen in Massenquartiere in Leoben und Semmering. Sogar eine Verlegung in das Tiroler Lager Fieberbrunn ist im Gespräch, das aufgrund der unhaltbaren Bedingungen dort bereits seit längerem geschlossen werden sollte und sich nun auch noch im Quarantänegebiet befindet.

In Portugal wurde allen Personen, die darum vor der Krise angesucht hatten, ein befristetes Bleiberecht verliehen, das ihnen insbesondere Zugang zu allen Gesundheitseinrichtungen und sozialen Unterstützungen ermöglicht. In Wien bemüht sich das Neunerhaus nach Kräften, der neuen Situation Herr zu werden; an eine Legalisierung wird nicht gedacht.

In Spanien wird die Einführung eines Mindesteinkommens beschleunigt. Auch wenn dies eine späte Reaktion auf das hohe Armutsrisiko darstellt, zeigt es doch auch, in welche Richtung staatliche Regelungen jetzt gehen könnten, um längerfristige schwere soziale Schäden zu verhindern. In diesem Sinne wurden auch in El Salvador alle Kosten für Mieten, Energie, Wasser, Internet und Telefon für drei Monate ausgesetzt.

In Spanien wurde außerdem auch ein Kündigungsverbot aufgrund von Covid-19 ausgesprochen, das in Kombination mit einem Kurzarbeitsmodell den Verlust von Arbeitsplätzen verhindern soll. In Österreich erreichte das Niveau der Arbeitslosigkeit trotz Kurzarbeit im April einen historischen Höchststand seit 1946.

Schließlich wurden in Frankreich, Griechenland, im Iran und Afghanistan wie auch in Berlin und New York Strafgefangene frühzeitig entlassen, um die Situation in den Gefängnissen zu entspannen. Auch in der Türkei wurde ein ähnlicher Weg gewählt, der allerdings gerade politische Gefangene von der Amnestie ausschließt. In Österreich wurden hingegen Freigänge und Ausgänge gestrichen und Anträge auf elektronische Fußfesseln zurückgestellt. Gleichzeitig wurde ein absolutes Besuchsverbot verhängt – eine Maßnahme, die in Italien, Kolumbien und Thailand zu massiven Gefängnisaufständen geführt hat, ist doch der Besuch die wichtigste Möglichkeit der Gefangenen, Kontakt mit ihren Familien zu halten.

Es gibt Alternativen in der Krisenbewältigung – und die Wahl zwischen diesen Alternativen wird entscheidend die gesellschaftlichen Entwicklungen nach dem Abflauen der Krise beeinflussen. Wenn Sandro Mezzadra zwei Antworten auf die Krise beschreibt, eine sozialdarwinistische des „survival of the fittest“ und eine, die auf das Gemeinsame, die Commons, abzielt, so lassen sich entlang dieser Achse auch mögliche Szenarien nach der Krise beschreiben. Denn Sozialdarwinismus ist – in einer anderen Form als derzeit – dem Kapitalismus eingeschrieben, der Kampf um das Gemeinsame bestimmt den Widerstand dagegen. Der Unterschied zwischen diesen Alternativen besteht darin, welche Menschenleben als schützenswert betrachtet werden und welche Lebensformen als der Würde des Menschen angemessen.

Monika Mokre arbeitet als Politikwissenschaftlerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und ist politische Aktivistin in den Bereichen Asyl, Migration und Strafvollzug.

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