„Gesundheits-Leviathan“? – Die autoritäre Versuchung des Staates und Möglichkeiten sozial-ökologischer Politik

von Ulrich Brand:

Die „Umbruch“-Reihe stellt zentrale Fragen: Was kann heute getan werden, damit gesellschaftliches Leben, Arbeit, soziale Institutionen und Infrastrukturen, Demokratie und das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur dauerhaft zukunftsfähig werden? Wie kann die gesellschaftliche Öffnung, die in der Krise plötzlich bisher Undenkbares möglich macht, genutzt werden, um für eine gerechtere, demokratischere, aber vor allem für eine Gesellschaft zu streiten, die auch künftigen Generationen ein erfülltes Leben auf unserem Planeten ermöglicht?

Welche Rolle spielt dabei der Staat bzw. staatliche Politik? Wir sehen vielerorts, vor allem in Europa, eine enorme Präsenz und Handlungsfähigkeit des Staates sowie ein starkes Vertrauen der Bürger*innen in diesen. Krisen sind immer „die Stunde der Exekutive“, das merkt man zum einen daran, dass in der Krise tendenziell die Zustimmung der Bevölkerung zu den Regierungen (stark) wächst; zum anderen treten die parlamentarischen Oppositionen in den meisten Ländern Europas kaum in Erscheinung. Die Parlamente nicken die einschneidenden Maßnahmen und gigantischen „Rettungs“-Pakete in den Ländern des globalen Nordens ab. 

Die argentinische Soziologin Maristella Svampa spricht vom aktuellen Staat als „Gesundheits-Leviathan“, der Grundrechte einschränkt und Befugnisse an sich zieht. Der Umgang mit der Corona-Krise könnte den Regierenden als Anschauungsmaterial dienen, wie weit sie in deklarierten Notstandssituationen gehen können. Viele Maßnahmen werden gesellschaftlich akzeptiert. Damit wird möglicherweise ein Alltagsverstand der Menschen gestärkt, demzufolge Krisen vor allem autoritär zu bearbeiten sind, Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie eingeschränkt werden müssen.

Wer hätte neben diesen problematischen Tendenzen vor einigen Monaten noch gedacht, dass die Regierungen derart entschieden in die Lebenswelt der Menschen und das wirtschaftliche Handeln eingreifen könnten? In den Debatten um eine weitreichende Klima- oder Verkehrspolitik wurde mit Schulterzucken reagiert. Maßnahmen wie Tempolimits und Fahrverbote zur Reduzierung von Feinstaub in Städten oder CO2-Emissionen wurden empört abgelehnt. Die Erzählung lautete, dass der Staat zu einem raschen Umsteuern gar nicht in der Lage sei, und den Menschen „einschneidende“ Maßnahmen nicht zu vermitteln und zuzumuten seien. 

Auch das Corona-Virus ist nicht einfach „da“, sondern es handelt sich um ein nur medizinisch zu identifizierendes Problem, das die Bevölkerungsmehrheit gar nicht unmittelbar als Krankheit erfährt. Insofern handelt es sich um eine Bedrohung, die in gewisser Weise abstrakter ist als der Klimawandel. Wer oder was bestimmt also, was ausreichend lebensbedrohlich ist, um in ein dezidiertes politisches Krisenmanagement einzusteigen? Der „Gesundheits-Leviathan“ hat eine enorme Interpretationsmacht in der Krise. 

Ebenso sind die Umgangsweisen der Regierungen damit nicht vorgegeben: Es gab anfänglich von der US-Regierung Leugnung, in Großbritannien Zögern, in Südkorea die Isolierung von Risikogruppen und in vielen Ländern Lockdown inklusive dramatischer Inszenierung. Lockdown bedeutet, dass die Regierungen eine zeitweise Unterbrechung der kapitalistischen Wachstumsmaschinerie verfügen, aber eben vielerorts auch die mikroökonomischen Aktivitäten der Bevölkerung einschränken, die ihr tägliches Überleben sichern. Aktuell, Mitte Mai, erleben wir in vielen Ländern Lockerungen und ein „langsames Hochfahren“ von Wirtschaft und Gesellschaft – immer durchzogen von der Angst vor einer „zweiten Welle“ der Ausbreitung des Virus.

Was können wir daraus lernen? So wie die Regierungen mehr oder weniger rasch drastische Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus ergriffen haben, so sehr könnte die Klimakrise zum Anlass genommen werden, ein deutlicheres politisches Umsteuern in Richtung sozial-ökologischer Transformation einzuleiten. Das Wissen um die Klimakrise und seine sozial-ökologischen Konsequenzen ist vorhanden und wird auch von den meisten Regierungen nicht mehr geleugnet. Die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler stellt fest: „Die Corona-Krise zeigt, dass wir entschlossen und ministerienübergreifend handeln können. Diesen Willen müssen wir in die Klimakrise mitnehmen. Wenn die Klimakrise kommt, dann bleibt sie. Dann wird dieser Ausnahmezustand zum Dauerzustand.“ (Der Standard, 15.4.2020)

Wie bereits in der Finanz- und Wirtschaftskrise, die 2008/09 ihren Anfang nahm, zeigt sich auch jetzt, dass viele Staaten in den kapitalistischen Zentren in der Lage sind, enorme regulatorische und finanzielle Ressourcen zu mobilisieren, in dem Versuch, die wirtschaftlichen und heute auch die gesundheitlichen Krisenerscheinungen zu bekämpfen. Das gelingt sehr unterschiedlich und jede Maßnahme hat mehr oder weniger starke Auswirkungen auf soziale Ungleichheit und wird als Maßnahme des Notstands gerechtfertigt. Das Mantra der Schwarzen Null als Kernelement der Austeritätspolitik gilt aktuell nicht mehr. Falls sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nicht deutlich verändern, wird dieses Mantra umso stärker zurückschlagen. Denn die aktuellen staatlichen Unterstützungsleistungen müssen in der Zukunft refinanziert werden und das wird mit Politiken gegen die Bevölkerungsmehrheit und mit unsolidarischer Politik in Europa einhergehen. 

Zudem sollten wir uns keinen Illusionen hingeben in Bezug auf die Rolle des Staates in Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Wenn die Rettungspakete nicht mit klaren sozialen und ökologischen Kriterien versehen werden, sind sie Teil der harten neoliberal-kapitalistischen Realität: Es ist die altbekannte Strategie, insbesondere der großen Unternehmen und deren Kooperation mit dem Staat, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Andererseits bleibt eine wichtige Erfahrung: Trotz der Verquickung mit den großen Unternehmen kann der Staat in bestimmten Situationen durchaus deutlich umsteuern, auch gegen mächtige Wirtschaftsinteressen, und zumindest teilweise auf soziale Belange Rücksicht nehmen. Daran sollte er immer wieder erinnert werden.


Ulrich Brand


Ulrich Brand lehrt und forscht als Professor für Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Er ist beteiligt an der Organisation der internationalen Konferenz zum Thema Degrowth über Pfingsten. Im Juni erscheint sein neues Buch „Post-Wachstum und Gegen-Hegemonie. Klimastreiks und Alternativen zur imperialen Lebensweise“ (VSA-Verlag) mit einem Beitrag zur Corona-Krise.

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