Quo vadis, Europa? Europa am Scheideweg
von Ruth Wodak
Vielerorts steigt der Unmut mit ‚der EU‘, laut hörbar unter Bekannten, Freund*innen, in den Medien, bei Kommentator*innen und auch bei manchen Politiker*innen. Warum macht die EU nichts gegen die Corona-Pandemie? Wo bleibt die EU in der sogenannten ‚Flüchtlingsfrage‘? Warum hilft die EU nicht den von der Corona-Krise besonders betroffenen Ländern? Warum greift die EU nicht ein, bei Verletzungen der vertraglich festgelegten Grundrechte, etwa in Ungarn oder in Polen? Usw. usw. Viele Fragen lesen und hören wir. Viel Ärger, Wut und Unzufriedenheit kommen zum Vorschein. Und viel zu wenige differenzierte und faktenbasierte Antworten.
Zweifellos könnte sich die Kommissionspräsidentin Ursula van der Leyen lauter und schneller zu manchen akuten Problemen äußern. Die Corona-Krise ist ja schließlich nicht die erste – und sicher auch nicht die letzte – Krise, mit der die EU konfrontiert ist. Die Corona-Krise ist auch nicht die schlimmste Krise seit 1945, wie die Historikerin Helene Maimann schlüssig argumentiert. Allerdings, wenn man die Diskurse über vergangene nationale, europäische oder globale Krisen seit Bestehen der EU bzw. EWG genau analysiert, wie beispielsweise in der Zeit des Kalten Krieges (Ungarn 1956, CSSR 1968, Polen 1981) oder in Bezug auf die Folgen von 9/11, den Bankencrash, die Finanzkrise 2008 oder die weltweite Flüchtlingsbewegung 2015/16, so wird deutlich, dass nationalstaatliche Perspektiven dominierten, ja sogar traditionelle ideologische Konflikte (etwa zwischen links und rechts) an den Rand drängten. „Has the Corona-Virus brought back the nation-state?“ fragt diesbezüglich pointiert der Politikwissenschaftler Jan Zielonka in einem Beitrag zur Plattform Social Europe.
Ähnlich verhielt es sich zumeist bei den Wahlen zum Europäischen Parlament – im Übrigen die einzige Möglichkeit der Mitbestimmung, die uns europäischen Bürger*innen verbleibt: meist werden innerstaatliche Konflikte bei dieser Wahl ausgetragen, nicht bestimmte Programme oder Richtungen gewählt, in die sich die Europäische Union entwickeln sollte und wo das europäische Parlament tatsächlich eingreifen könnte. Nationalstaatliche Interessen bestimmen also nicht erst jetzt die Möglichkeiten der EU, sondern der Widerspruch zwischen transnationalen Institutionen und Nationalstaaten ist schon immer inhärent in der Konzeption der EU angelegt.
Die EU besteht leider noch immer als ein Abstraktum in den Gedanken vieler Menschen. „Außerhalb“ von uns, außerhalb der jeweiligen Staaten. Dass wir alle teil eben dieser EU sind, ist selbst nach so vielen Jahren noch nicht ins Allgemeinwissen eingedrungen. Daher können die nationalstaatlichen Regierungen weiterhin das schon bekannte blame-game spielen: Wenn ‚uns‘ etwas nicht passt, dann ist die EU schuld. Passt es ‚uns‘ aber, dann haben wir es bei der EU durchgesetzt. So vernehmen wir dies fast täglich; und so kolportieren es auch die Medien.
Offensichtlich wissen nur wenige tatsächlich über das sehr komplexe Institutionen- und Entscheidungsgeflecht Bescheid. Wenige scheinen auch darüber informiert zu sein, dass die Staats- und Regierungschef*innen im Europäischen Rat das letzte Sagen haben und jederzeit ein einziges Veto Entscheidungen blockieren kann, sei es über das Haushaltsbudget, über die Sanktionen gegen ein Mitgliedsland, das die Verträge verletzt hat, oder über die Koordination der Aufteilung von Flüchtlingen. Und selbst wenn, so mussten wir erfahren, endlich Entscheidungen getroffen wurden (wie beispielsweise über die Verteilung von Flüchtlingen), kann die EU die Mitgliedstaaten nicht dazu zwingen, diese zu implementieren.
Es fehlt an adäquat vermittelter und verständlicher (nicht simplifizierter) Information und Bildung darüber, woraus die EU besteht, was die vielfältigen komplizierten Verträge festgelegt haben, wer die Entscheidungen wann, wie und wo trifft, was den Nationalstaaten obliegt, und woraus die Agenda, die Möglichkeiten und Grenzen, der Kommission und des Parlaments tatsächlich bestehen. Dies sollte, so meine ich, dringend Teil politischer Bildung an den Schulen werden. Auch die Medien könnten sicherlich genauer recherchieren und differenzierter über die EU Institutionen und nationalstaatliche Verflechtungen berichten.
So haben viele erst während der Corona-Krise erfahren, dass die Gesundheitsagenden nationalstaatlich geregelt werden. Auch Asyl- und Migrationspolitiken obliegen den Nationalstaaten. Die Verantwortung zum Gelingen oder Misslingen der jeweiligen Gesundheits- und Migrationspolitik liegt also bei den Mitgliedstaaten, nicht bei der Kommission, die nur Empfehlungen aussprechen kann. Zudem haben wir gerade erlebt, dass Initiativen, wie die Eurobonds als wichtige und wirkungsvolle Rettungsmaßnahme für – aufgrund der Corona-Krise – verstärkt verschuldete Mitglieder von manchen solidarischen Staaten begrüßt und von anderen (vor allem Deutschland, Österreich und die Niederlande) abgelehnt werden. Der Brief, der die Empörung über das Außerkraftsetzen des ungarischen Parlaments durch Viktor Orban ausdrückt, wurde nicht von allen EU-Mitgliedstaaten mitgetragen, auch nicht von Österreich.
Dass sich die Kommissionspräsidentin, die der Europäischen Volkspartei zugehört, zunächst nicht und dann erst zögerlich zu Orbáns diktatorischen Gelüsten und Praktiken gemeldet hat, darf im Übrigen nicht verwundern: Orbán und die Višegrad-Länder verhinderten, wie aus den langwierigen Verhandlungen hinter den Kulissen über die Nominierung der Präsidenten des Parlaments und der Europäischen Kommission nach den europäischen Wahlen im Mai 2019 durchgesickert ist, erfolgreich die Wahl des niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans, des Spitzenkandidaten der Europäischen Sozialdemokrat*innen, zum Kommissionspräsidenten. Timmermans hatte wiederholt Orbáns ‚illiberale‘ und autoritäre Politik sowie seine antisemitischen Kampagnen gegen George Soros kritisiert. Diese – nicht untypische – Vorgangsweise auf der EU-Backstage bestätigt die Meinung des Politikwissenschaftlers Jan-Werner Müller, dass es „in keinem Land Westeuropas oder Nordamerikas ein Rechtspopulist ohne Hilfe ins Amt geschafft habe. Dazu hätte es stets konservative Kollaborateure aus dem Establishment gebraucht.“ Ganz ähnlich stellt der Politologe Cas Mudde fest, dass konservative Mainstreamparteien nun offen über Einwanderung und Multikulturalismus als Bedrohung der nationalen Identität und Sicherheit diskutieren. So kann man legitimer Weise festhalten, dass die „politische Mitte“ nach rechts gerückt ist, rechtspopulistische Agenden also normalisiert wurden.
Somit wiederhole und erweitere ich die im Titel gestellte Frage: Quo vadis, Europa nach der Corona-Krise? Einigen sich die Nationalstaaten nun eher langfristig auf mehr Solidarität und engere Zusammenarbeit aufgrund der rezenten Krisenerfahrungen oder igeln sich die Nationalstaaten noch mehr ein und setzen sogar langfristig ausschließlich auf eine Wirtschaftsunion zwischen unabhängigen Nationalstaaten, ohne einen vertraglich gesicherten Konsens über die Menschenrechts- und Friedensunion? Wobei, wie viele Ökonomen plausibel erklären, letzterer Weg ohne mehr Integration und Solidarität aufgrund der gegebenen transnationalen Abhängigkeiten der Wirtschaft zum Scheitern verurteilt sein wird. Natürlich gäbe es auch andere Optionen.
In der Analyse 28 sogenannter spekulativer Reden zur Zukunft der EU rund um das Millennium 2000 unterschieden Gilbert Weiss und ich signifikant unterschiedliche, nationalstaatliche Visionen, alle anknüpfend an die berühmte „Humboldt-Rede“ des damaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer. So präferierten ‚die Deutschen‘ einen Verfassungspatriotismus, ‚die Franzosen‘ ein in die Zukunft gerichtetes ‚offenes Projekt‘. Den Briten musste Tony Blair überhaupt erst nahebringen, was die EU darstelle.
2018, bei der Analyse von Reden des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán musste ich feststellen, dass sich nun die Visionen zur Zukunft der EU noch drastischer unterschieden, als im Jahre 2000. Während Macron mehr Integration fordert und in seinen vier Imperativen ein Ende der „Angst“ ankündigt, vor allem der Angst vor euroskeptischen und rechtspopulistischen Einstellungen und Politiken, und detailliert begründet, warum u.a. der Schutz der Menschenrechte, eine gemeinsame Budgetpolitik, Mehrsprachigkeit und Meinungspluralismus zentral seien, so betont Orbán die Wichtigkeit des christlichen Abendlandes, des Nationalstaates, eines nativistischen Konzepts der Staatsbürgerschaft und damit einhergehend, der Dominanz der ungarischen Staatssprache. Macron wartet bis heute auf eine Antwort auf seine in weiteren Reden wiederholte und weiter ausgeführte Vision, Orbán hingegen konnte und kann sich über Applaus aus den Višegrad Staaten (und auch aus Österreich) freuen.
Gerade die Corona-Krise verlangt nach Visionen für eine Post-Corona-EU und -Welt. Grenzen wurden zwar geschlossen, doch Viren kennen keine Grenzen; die Klima-Krise übrigens auch nicht. Die wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise verlangen, so die Kommissionspräsidentin, einen neuen Marshall-Plan für die EU-Mitgliedsstaaten. Dies kann nur auf gemeinsamer Basis implementiert werden. Der Ökonom Clemens Fuest argumentierte recht differenziert in einem Interview in der ZIB2 (15. April 2020), dass die reichen EU Mitgliedsstaaten, wie Österreich und Deutschland, in ihren Produktionen von den ärmeren Ländern (etwa Italien und Spanien) total abhängig seien. Eine etwaige Pleite dieser Länder würde daher auch ‚uns‘ treffen. Transnationale Solidarität sei daher das Gebot der Stunde, nicht enges, rückwärtsgewandtes nationalstaatliches Denken. Ähnlich äußern sich viele Politikwissenschaftler*innen und Soziolog*innen.
Die Corona-Krise machte und macht deutlich, dass heutzutage verschiedenste Expert*innen wieder gefragt sind (nachdem der populistische Zeitgeist stark auf eine Politik der Gefühle und die Macht des „Commonsense“ gesetzt hatte). Es bleibt zu hoffen, dass die europäischen Politiker*innen die Einsichten aus der Krise nicht schnell über Bord werfen, sondern gezwungen sind, nachhaltige solidarische und soziale Programme zu entwickeln und zu vereinbaren, um für neue – grenzüberschreitende – Krisen (die sicher kommen werden) gewappnet zu sein.
Ruth Wodak
Ruth Wodak ist Em. Distinguished Professor of Discourse Studies, Lancaster University (UK) und o. Univ. Professorin i.R. für Angewandte Linguistik, Universität Wien.