Eine neue Gesellschaft muss von Einheimischen wie auch Einwanderer*innen geschaffen werden

von Savo Ristić

Extreme Ereignisse wie die Coronakrise stellen eine Gesellschaft immer auf die Probe und führen uns vor Augen, wie gut oder schlecht unsere Gesellschaft im Sinne von Gerechtigkeit und Inklusivität funktioniert. Während der Krise wird sichtbar, was reparaturbedürftig ist und was sich als gut erweist. Mir wäre lieber, wenn wir keine echten Pandemien bräuchten, um darauf zu kommen, sondern uns gedanklich mit einem Extremfall (sei es eine Naturkatastrophe, Rechtsextremismus oder ein Virus) auseinandersetzen würden, um unsere Gesellschaft zukünftig vorzubereiten.

Was hält die Gesellschaft zusammen?

Eine wesentliche Frage für jede Gesellschaft ist der Zusammenhalt. Nationalismus, Rasse, Religion oder politische Ideologie mögen Menschen zwar vereinen, doch schließen sie gleichzeitig auch immer andere aus. Was wir brauchen ist eine Erzählung, die unsere Gesellschaft stärkt, gleichzeitig aber keine negativen Auswirkungen auf Teile der Gesellschaft hat. Es muss möglich sein, dass unsere Gesellschaft solidarisch ist und gleichzeitig größtmöglichen demokratischen Raum für Entfaltung bieten kann. Es muss möglich sein, dass Chancengleichheit, Teilhabe, Anerkennung und Zugehörigkeit für alle Bürger*innen im Vordergrund stehen.

Wenn wir unseren gesellschaftlichen Kompass nicht nach diesem Ziel ausrichten, werden wir uns entweder im Kreis bewegen oder kläglich scheitern, da wir dann gar kein Ziel ansteuern. Wir verlieren ohne einer klaren Vision und einer klaren Vorstellung über die Zukunft so viel Zeit. Und durch unsere Passivität produzieren wir zudem Bürger*innen, die in ihrer Orientierungslosigkeit verzweifeln, unzufrieden und überfordert sind. Wir ziehen weitere Generationen an Bürger*innen heran, die mehr oder weniger voller Vorurteile agieren und sich in rassistischen Denkmustern bewegen. Jedes Jahr, in dem wir untätig sind, verlieren wir Generationen an Bürger*innen, die nicht aufgeklärt sind, wenn es um Menschenrechte, Toleranz, Akzeptanz und respektvollem Umgang miteinander geht.

Die ideale Gesellschaft 

Wir können unsere Zukunft selbst in die Hände nehmen oder wir sind einfach das Opfer unserer Zukunft, weil wir nichts anderes können als auf Schicksalsschläge zu reagieren, die uns wie ein Tsunami immer wieder treffen werden. Allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen Entwicklungen in unserer Gesellschaft und einem Tsunami. Ein Tsunami kommt überraschend, aber der Rechtsruck im Land nicht. Am Tag nach dem Tsunami ist die Gefahr gebannt, wogegen die Saat des Extremismus nach einer grauslichen Entladung von Gewalt weiterhin prächtig vor sich hin gedeiht. Um das Ziel bestmöglich zu erreichen, brauchen wir also ein klares Ziel. Wir müssen das Bild einer idealen Gesellschaft malen, das uns anschließend als Referenzpunkt dienen soll. Es gibt anscheinend genügend Gründe, warum sich die politische Elite davor drückt. In einer aufgeklärten und antirassistischen Gesellschaft lassen sich Wähler*innen nicht so leicht täuschen und  gegeneinander aufhetzen und ausspielen. 

“Ohne das Bild einer idealen Welt hätte die Menschheit nie für eine Verbesserung ihres Lebens gekämpft und würde es heute auch nicht mehr tun. Utopia sei der Leitstern auf unserem Weg zu einem besseren Leben.”

Gregory Claeys

Natürlich gibt es hier keine eindeutigen und einfachen Ideen, die wir leicht umsetzen könnten. Selbst wenn wir uns auf ein Ziel einigen würden, wäre der Weg dorthin sicher umstritten und so verschieden, dass wir immer wieder scheitern würden. Es gibt dennoch Zutaten einer guten und idealen Gesellschaft, die wir nicht in Frage stellen dürfen. Es gehören auf jeden Fall Menschenrechte, Antirassismusarbeit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Tierschutz und Umweltschutz, freier Zugang zu Bildung, das Recht auf Chancengleichheit, leistbares und gut funktionierendes Gesundheitssystem, gerechte Besteuerung des Vermögens dazu.


Eine Gesellschaft ist Wandel

Es wäre viel erreicht, wenn wir verstehen würden, dass eine Gesellschaft keine Konstante sein kann, sondern immer einen Wandel bedeutet. Eine “konstante Gesellschaft” ist nicht überlebensfähig, sondern zum Scheitern verurteilt.

Eine Gesellschaft ist einem Organismus vergleichbar. Evolutionstechnisch ist es einem Organismus ohne Anpassung nicht möglich, den Herausforderungen, die durch die Umwelt verursacht werden, über einen längeren Zeitraum Stand zu halten. Wir Menschen können uns also auch nicht vernünftigerweise eine Gesellschaft wünschen, die sich, statt weiterzuentwickeln, über “Konstante” wie Nation, Religion oder Brauchtum definiert. Durch eine so getroffene Unterscheidung in “Wir” und die “Anderen” wird daher nicht nur Diskriminierung hervorgerufen, sondern die Gesellschaft als Ganze in den Tod geführt.

Wenn beispielsweise behauptet wird, dass sich Migrant*innen in eine Gesellschaft integrieren sollen, dabei jedoch eine “konstante Gesellschaft” gemeint ist, dann werden zwangsweise Parallelgesellschaften erzeugt. Denn in eine “konstante Gesellschaft” kann man sich nur assimilieren, doch das kann nur gelingen, wenn es keine sichtbaren Unterschiede zwischen Migrant*innen und einheimische gibt.

Wenn wir dennoch unsere Gesellschaft als im Wandel begriffen verstehen, dann sind nicht nur Migrant*innen am Zug, sondern genauso die Einheimischen. Denn dann leben wir alle dann in einer Gemeinschaft, in der wir voneinander profitieren und lernen. Im Wandel zu leben, heißt auch, ein Teil des Wandels zu sein und mit Bereitschaft dem Neuen offen zu begegnen. Es bedeutet, immer wieder eigene Standpunkte zu hinterfragen und neu zu denken. Dann heißt es nicht mehr “Migrant*innen müssen sich integrieren” sondern: “Alle Bürger*innen erschaffen gemeinsam eine neue Zukunft, eine neue Gesellschaft, die den Anspruch erhebt, noch besser, noch freier, noch gerechter, noch chancengleicher, noch friedlicher und noch demokratischer zu sein.” Diese neue Gesellschaft ist keine Kopie der Vergangenheit, sie vermeidet die Fehler der Vergangenheit, um das Leid zu minimieren und sie erschafft sich jeden Tag aufs Neue.

Es muss uns also bewusst sein, dass unsere jetzige Gesellschaft nicht perfekt ist, sondern unser Ziel noch sehr weit vor uns liegt. Dabei dürfen wir jedoch glauben, dass eine Gesellschaft, die wohlhabend ist, deshalb den Rassismus überwunden hat. Die heutigen Rassisten gehen großteils nicht auf die Straße und prügeln auf Migrant*innen, Andersdenkende und Andersgläubige. Doch sie verbreiten sehr wohl Hass über Online-Plattformen. Sklaverei und die koloniale Ausbeutung wird woanders hin verlagert, während der Keim des Rassismus in uns weiter gedeiht. Erst wenn wir wirklich verstanden haben, was es bedeutet, dass alle Menschen gleich an Würde sind, was Religionsfreiheit und was die Gleichstellung von Mann und Frau bedeuten, und erst wenn wir dieses Verständnis auch in die Tat umsetzen, dann können wir von Fortschritt sprechen. 


Savo Ristić

Savo Ristić, Migrant der ersten Generation, Menschenrechtsaktivist und Autor. Derzeit läuft seine Initiative zur Errichtung eines GastarbeiterInnen-Denkmals in Wien.

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Plädoyer für eine neue Transparenz

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Richtig aus der Krise