Wer gestaltet sie, Europas „neue Normalität“?

von Elodie Arpa

Über Visionen, Debatten und offene Fragen zum Europatag

Heute vor 70 Jahren wusste man nichts vom Coronavirus, von Selbstisolation oder Home-Office. Und auch wenn in Pressekonferenzen und TV-Interviews an politischer Kriegsrhetorik derzeit nicht gespart wird, war die Lage damals (zum Glück) eine völlig Unvergleichbare. Zwei Weltkriege hatten Europa in Schutt und Trümmer versetzt. Die Arbeitslosigkeit war enorm, der Hunger überwältigend und jeder Überlebende kannte mehr Tote, als er aufzuzählen in der Lage war. Es herrschte Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Ohnmacht. 

Wenn man heute davon spricht, jede Krise sei auch eine Chance, so scheinen einem die Nachkriegsjahre recht zu geben. Wenige Wochen nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wurden die Vereinten Nationen gegründet, 1949 dann auch der Europarat. Und schließlich drängte die Notwendigkeit eines friedlichen Wiederaufbaus des europäischen Kontinents zur Lösung der deutsch-französischen Streitfrage. Nach jahrhundertelanger Feindschaft sollten die zwei Großmächte ihren gegenseitigen Hass ablegen und sich durch wirtschaftliche Interdependenz zur Friedenserhaltung zwingen. Das war sie, die Vision des damaligen französischen Außenministers Robert Schumann. 

Den meisten Menschen schien diese Idee völlig unvorstellbar. Nach Jahrzehnten des Blutvergießens sollte man eine europäische Gemeinschaft aufbauen? Und doch ging der 9. Mai 1950 in die Geschichte ein. Als Gründungstag der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Als Grundstein der Europäischen Union, in der wir heute leben. 

Heute ist Europatag. Ein Tag, den es zu feiern gilt! Und doch fällt das Zurückblicken schwer. Denn wenn wir das heutige Europa mit seinen Anfängen vergleichen, ist es kaum wiederzuerkennen. Wo vor 70 Jahren Visionäre am Rednerpult standen, die den Mut hatten, über Notwendigkeiten zu sprechen, die (noch) von keiner gesellschaftlichen Mehrheit getragen wurden, so scheint sich diese politische Standhaftigkeit mit der Zeit verwaschen zu haben. „Wer Visionen hat, braucht einen Arzt“, soll Bundeskanzler Franz Vranitzky 1988 gesagt haben. Fast könnte man glauben, dieser Ausspruch sei zum Mantra der derzeitigen Spitzenpolitik geworden. 

Nach der Krise wird nichts mehr so sein wie vor der Krise, wird uns gesagt. Von einer „neuen Normalität“ ist die Rede. Wie eine Naturgewalt klingt sie, diese „neue Normalität“. Wie eine unausweichliche Tatsache, die über uns hereinbrechen wird. 

Nur passieren gesellschaftliche Realitäten nicht einfach so. „Aus der Corona-Krise wird nichts automatisch folgen, sondern immer nur aus der politischen Debatte“, so sagte es der deutsche Parteienvorsitzende der Grünen Robert Habeck kürzlich. Doch wo bleibt sie, die grundlegende politische Debatte über unsere Zukunft?

Sie kratzt an der Oberfläche. Wir haben uns zu sehr an tagespolitische Nachrichten gewöhnt. Wir verwechseln konstruierte Diskussionsformate, eine Abfolge an Monologen, mit gesellschaftlichem Diskurs. Und das obwohl die derzeitige Disruption tatsächlich eine Chance darstellt. Für Kreation oder Destruktion. Die Entscheidung liegt bei uns.  

Wenn uns das Coronavirus eines gezeigt hat, dann das wir zu drastischer Veränderung in der Lage sind. Unrealistisch – dieses Wort scheint mit 2020 eine ganz neue Bedeutung erlangt zu haben. Ist es nicht sogar bedeutungslos geworden?  

Wir alle warten auf die uns bevorstehende „neue Normalität“ wie auf eine Prophezeiung. Nur frage ich mich, wer sie gestalten wird, diese neue Normalität. 

Wer hätte gedacht, dass wir einmal kollektiv über Selbstisolation und finanzielle Unsicherheit klagen würden. Wer hätte annehmen können, dass wir Sehnsucht nach einem Konzertbesuch haben würden, nach einem Theaterabend oder nach einem Nachmittag im Freibad um die Ecke. Nie sind uns unsere Freiheiten so bewusst gewesen, wie heute. Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, ein funktionierender freier Warenverkehr und das uneingeschränkte Recht auf Privatsphäre – all das geht uns bitter ab. Blicken wir zurück ins heute vor 70 Jahren, so könnten die Erfolge der Europäischen Union nicht deutlicher sein. Und doch reicht dankbares Zurückblicken nicht aus!

Es reicht nicht aus in Sonntagsreden von europäischen Werten zu reden und bei der ersten Herausforderung dem Nationalismus klein beizugeben. Und genauso ungenügend ist es, in Europa die elitären Bürokraten dort in Brüssel zu sehen. Stattdessen müssen wir anfangen zu verstehen, dass Europa unsere Staats- und Regierungschefs, unsere Minister und unsere gewählten Parlamentarier im Europäischen Parlament ist. Letztlich sind Europa sind wir alle! Jeder einzelne von uns. 

Lange sind wir der wachsenden sozialen Ungleichheit mit Ignoranz begegnet. Das Coronavirus hat sie nun unter die Lupe gelegt. Welche Berufe sind tatsächlich systemrelevant? Haben wir endlich auch die unbezahlte Arbeit erkannt? Was muss das staatliche Sicherungsnetz tragen können?  

Leben wir im 21. Jahrhundert, oder hinken unsere Bildungs- und Berufswelten weiterhin hinterher? Müssen die vielen Dienstreisen sein? Was bedeutet flexibel arbeiten? Kann individuelle Förderung digital passieren? Wie beschäftigt muss man tatsächlich sein? 

Was ist Demokratie? Derzeit scheinen Regierungen Gesetze zu beschließen. Dem ist nicht so. Wo bleibt die mediale Information zum Prinzip der Gewaltenteilung? Wo der Aufschrei zu den autoritären Vorgängen in Ungarn und Polen? 

Das Coronavirus ist zweifelslos gefährlich. Die größte Gefahr aber kommt daher, dass es alle anderen Themen überschattet. Haben wir die Flüchtlinge auf Lesbos vergessen? Wurden die Proteste in Hong Kong verdrängt? Und was ist mit dem Klima? Wollen wir von einer Krise in die nächste, weitaus drastischere Krise stürzen? In eine Krise, die anders als die Derzeitige, vorhersehbar und noch eindämmbar ist. 

Heute ist Europatag. Und bestimmt werden uns viele Reden unterkommen, schöne Worte, nette Lippenbekenntnisse. Doch wenn wir all unsere Freiheiten, die uns derzeit so bitter abgehen, wiedererlangen wollen. Wenn wir weiterhin in Wohlstand und Frieden auf einem intakten Planeten leben wollen. Dann dürfen wir uns damit nicht zufriedengeben. Stattdessen müssen wir Taten fordern. Und selbst aktiv werden!

Denn wenn uns der 9. Mai eines beweist, dann dass alles möglich ist. Mit Visionen, Mut und Tatendrang: Wer weiß wo Europa stehen könnte, heute in 70 Jahren?


Elodie Arpa

Elodie Arpa ist Wirtschaftsrechtstudentin und passionierte Europäerin. Als Young Multiplier der Europäischen Kommission, Youth Representative des Europarats und Campaign Manager des European Student Think Tank engagiert sie sich für ein handlungsfähiges und bürgernahes Europa.

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