Professionelle Empathin

von Verena Altenberger

Es ist der 1. April 2020, ich schreibe diese Zeilen, nachdem ich vom Einkaufen zurückgekommen bin. Seit zwei Wochen muss ich meistens kurz weinen, wenn ich von Erledigungen oder vom Joggen nach Hause komme. Es überfordert mich, Menschen zu sehen, die mir ausweichen, es überfordert mich, selbst Slalom zu gehen, zwei Meter Abstand zu allen – manchmal zucke ich jetzt schon regelrecht zusammen, wenn mir versehentlich jemand „zu nahe“ kommt. Es überfordert mich, ältere Mitmenschen zu sehen, die an der Supermarktkasse stehen, es überfordert mich, Obdachlose zu sehen, die auf fast menschenleeren  Straßen sitzen. Es überfordert mich, diese globale Krise zu erleben. Obwohl ich ein Mensch bin, der Probleme anschaut, der sich per se immer für die rote Pille entscheiden würde – das war in meinem System dann wohl doch nicht vorgesehen, solche Situationen tatsächlich in meinem Leben zu erleben – Ausgangsbeschränkungen, Triage – drei Autostunden von meinem sicheren Zuhause entfernt, maskierte Menschen, jeglichen Kontakt meidend, meine Heimatgemeinde unter Quarantäne, weltweite Angst vor einem Zusammenbruch der Wirtschaft, vor plötzlicher Arbeitslosigkeit, Unsicherheit.

Als Schauspielerin bin ich derzeit nicht systemrelevant, alle Dreharbeiten pausieren, ich sitze zuhause und habe plötzlich sehr viel Zeit. Und alles was ich derzeit tun kann, ist nachdenken, mitfühlen, helfen im Rahmen meiner Möglichkeiten. Ursula Strauß hat mal in einem Interview so toll gesagt, wir Schauspielerinnen sind berufsmäßige Empathinnen. Das unterschreibe ich. Zumindest das kann ich gerade besonders gut: Mitfühlen. Ist vielleicht grad ein bisschen dürftig, denke ich. Und dann denke ich – ist aber auch Voraussetzung für ganz  schön Vieles. Empathie ist die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, sie zu verstehen, nachzuempfinden, mitzufühlen, was sie fühlen. Für mich ist sie Voraussetzung für Verständnis, für gewaltfreie Kommunikation, für Gleichberechtigung, Feminismus, Fairness, für Solidarität, für Hilfsbereitschaft. Für mich ist sie die Grundlage meiner Arbeit, meines Denkens und meines Handelns. Dies ist kein wissenschaftlicher Text, es ist ein innerer Monolog, dem vor allem Empathie und meine persönliche Sozialisation zugrunde liegen.

Wann wird die Welt wieder ihren gewohnten Gang nehmen? Wird sie das überhaupt? Soll sie das überhaupt? Was wünsche ich mir für eine „Welt nach Corona“?

Ich wünsche mir vor allem Offenheit. Gerade jetzt, wenn  Menschen mit meterweitem Abstand aneinander vorbeigehen, die Gesichter durch Schutzmasken fast unlesbar, wünsche ich mir, dass wir nach dieser Krise umso offener aufeinander zugehen. Ich wünsche mir, dass wir einander fragen, wenn wir etwas nicht verstehen, dass wir erst einmal interessiert auf unsere Mitmenschen zugehen, bevor wir urteilen und im Zweifel verurteilen. Ich wünsche mir, dass wir keine Angst vor einander haben, dass wir mutig sind im Umgang miteinander, dass wir mutig unseren eigenen Emotionen und den Gefühlen anderer begegnen. So simpel es klingen mag – dass wir uns trauen, zu fragen: „Kann ich Ihnen helfen?“ Das in-Kontakt-treten mit anderen sollte nicht beklemmend sein, es sollte eigentlich selbstverständlich und von Mut, Offenheit und Wertfreiheit geprägt sein.

Wie oft bemerke ich an mir selbst, dass ich mich nicht traue, Hilfe anzubieten, eine Handlung, die ich beobachte zu hinterfragen – und zwar direkt; wie oft ist meine erste Reaktion auf einen Blickkontakt wegzuschauen, anstatt erst einmal offen in das Gesicht meines Gegenübers zu blicken. Wie oft bemerke ich Scham an mir, wegen vermeintlich dummer Fragen, wegen Situationen, in denen ich unsicher bin und unsicher wirke, wegen Situationen, in denen ich Hilfe gebraucht hätte, wegen Situationen, in denen ich Hilfe hätte anbieten sollen. Ich nehme mir vor, noch mutiger zu sein, und noch weniger Angst vor meinen Mitmenschen zu haben, noch offener auf Leute zuzugehen, auch mal ein paar Schritte zurückzugehen, wenn ich, noch überlegend, ob ich was sagen, ob ich helfen soll, schon längst an der Frau mit den drei Sackerln und dem Kind, das schreit, vorbeigegangen bin. Oder an der jungen Frau, die an der Bushaltestelle sitzt und weint, oder an dem älteren Herren, dem gerade was runtergefallen ist, ... Ich nehme mir vor, Solidarität, Hilfsbereitschaft und Zivilcourage noch ernster zu nehmen. Und ich bin überzeugt, dass das, was ich ausstrahle und zu geben bereit bin, zurückkommen wird und Kreise zieht. Ich bin überzeugt, dass gute Taten eine größere Kraft haben als Angst und Negatives, als Scham und Reue. Und ich bin überzeugt, dass eine Geisteshaltung, in der wir andere nicht verurteilen, in der wir anderen Mut und Freiheit und Anderssein zugestehen, im Endeffekt auch uns selbst ermächtigt, ebenso zu sein. Ich glaube fest daran, dass die freie Begegnung mit unserem Gegenüber uns zu mehr geistiger Freiheit und zu mehr Mut im Ausdruck verhilft.

Ich wollte schon immer Schauspielerin werden. In Interviews werde ich heute häufig gefragt, welcher Film, welches Theaterstück dafür der Auslöser war. Nun – keines. Es war der dringende Wunsch, mich frei zu fühlen innerhalb der Gesellschaft, mich klassenfrei durch alle Schichten bewegen zu dürfen, es war das Sehnen nach eigenem Mut, der nicht bewertet wird. Schon als Kind habe ich gefühlt, dass diese Haltung, diese Fluidität der Klassen vor allem Künstlerinnen zugestanden wird. Den Närrinnen. Was ich mir wünsche für eine Gesellschaft nach Corona? Mehr Narrenfreiheit für alle.

Ich stelle dieser Tage fest, dass ich mich viel sorge. Das ist erstmal kein angenehmes Gefühl – Sorge. Und dann denke ich, sich zu sorgen ist doch eigentlich etwas Schönes. Sich zu sorgen ist die Grundlage, um sich um etwas zu kümmern, sei es um sich selbst, oder um andere. Sich sorgen, und sich kümmern. Zwei Dinge, die ich mir auch postcoronal noch mehr wünsche. Und welch schöne Worte, ich will sie noch einmal schreiben: sorgen, kümmern.

Viel kann ich gerade nicht tun in meiner Wohnung in Wien sitzend, denke ich. Und überlege und suche im Internet, wie ich mich nützlich machen könnte. Ich finde das Team Österreich von Ö3, ich finde „Caritas und Du“ – für beide Plattformen melde ich mich an; ich hänge in unserem Flur Schilder für die Nachbarinnen auf – dass ich Einkäufe und sonstiges für Risikogruppen gerne übernehme. Viele melden sich noch nicht, nur ein paar Mal bin ich bisher losgezogen. Ich spende weiterhin, ich gebe dem Obdachlosen, der in meiner Straße sein Quartier aufgeschlagen hat, deutlich mehr als sonst. Als Kompensation, weil so wenig los ist. Meine 91-jährige Nachbarin, die ihr Geld vor allem am Monatsende sehr genau abzählen muss bei den Einkäufen, lasse ich dann nicht zahlen, einige Einkäufe übernehme einfach ich. Und warum schreibe ich das alles hier auf? Weil ich von meiner Mama so eine wunderbare Maxime gelernt habe: „Tu Gutes und rede darüber“, sagt sie, während sie vor einigen Jahren Raum für 15 Geflüchtete auf unserem Hof schafft. So sorgst du nicht nur für mehr Gutes in der Welt, sondern kannst andere inspirieren, auch mitzuziehen.

Ich bemerke dieser Tage zum ersten  Mal bewusst, dass ich eine bisher sehr systemimmanente Geisteshaltung in Bezug auf Geld verinnerlicht hatte: Geld ist wichtig, Wirtschaft ist wichtig, und Geld sollte mehr werden auf dem eigenen Konto. Jedes Jahr ein bisschen mehr verdienen, nicht stagnieren, nicht nachlassen. In den letzten Jahren, so fällt mir auf, habe ich neben meinem künstlerischen Anspruch auch das Kriterium Verdienst angesetzt. Zwar nicht in der Auswahl meiner Rollen, sehr wohl aber bisher zufrieden zurückblickend auf das jeweils vergangene Jahr, wenn im Vergleich zum Vorjahr zumindest ein kleines Plus zu erkennen ist. Und dann stelle ich fest, dass das mit dem Verdienst in diesem Jahr schwieriger werden wird – schließlich wird jetzt erstmal länger nicht gedreht, die Theater sind zu, die Lesungen abgesagt. Das macht mir Angst, bemerke ich. Und dann hallt plötzlich ein Satz in mir nach, den Stage Host Benjamin Palme beim diesjährigen Österreichischen Filmpreis gesagt hat: „Degrowth is an option.“

Degrowth is an option. Das beruhigt mich, das entschleunigt meine Gedanken und leitet sie zurück zu dem, was wirklich zählt. Für unsere persönlichen Ambitionen, für unsere Geisteshaltung und für unsere Wirtschaft wünsche ich mir für die Zeit nach dieser Krise, dass wir zumindest diskutieren über diesen wunderbaren, so simplen und so wahren Satz: Degrowth is an option.

Mehr Empathie, mehr Mut, mehr Offenheit, mehr Gutes tun und sich kümmern, mehr Narreteien, ach ja – und ein bedingungsloses Grundeinkommen – das wünsche ich mir. Und mehr EU. Viel, viel, viel mehr EU. EU – das ist für mich der Zusammenschluss vieler unterschiedlicher Staaten, die eine große kulturelle Vielfalt und diverse Sozialisation mitbringen, die sich aber zusammenfügen zu einem Ganzen, um den Menschen, die in diesen Staaten leben, größtmögliche Freiheit und Rechtssicherheit, Frieden und Stabilität zu garantieren. Ich bin ob der aktuellen Krise nicht enttäuscht von „der EU“ – ich bin enttäuscht von den vielen einzelnen Staaten und ihren Lenkern, die sich reflexartig abschotten, staatenweise bunkern, die Ausnahmesituation für ihre Parteipolitik missbrauchen, und die Intensivbetten innerhalb der eigenen Landesgrenzen zählen. Es wird eine große und wichtige Anstrengung während und nach dieser Krise brauchen, um zu überlegen, wie man die europäische Identität und den wirklichen Zusammenhalt, das Eins-sein über Landesgrenzen hinweg bewerkstelligen kann. Ich wünsche mir einen europäischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, ich wünsche mir einen europäischen Pass, das bedingungslose Grundeinkommen europaweit gedacht. Ich wünsche mir, dass immer mehr Menschen angeben, vor allem und zuallererst Europäerin zu sein. Ich wünsche mir, dass die Zahl der Intensivbetten bei Zählung die Grenze zwischen Norditalien und Österreich ganz einfach überspringt…

Und ich wünsche mir, dass dieser so wichtige und derzeit so labile Zusammenschluss von Nationalstaaten so schnell wie möglich Humanität vorlebt. Ich habe Moria gesehen und ich kann einfach nicht begreifen, dass solch ein Lager innerhalb der EU, auf einer malerischen griechischen Insel existieren darf. Ich kann es nicht verstehen, ich kann es nicht fassen. Ich kann nicht verstehen, wie die Menschen, die innerhalb der friedlichen, sauberen und sicheren europäischen Union leben, akzeptieren können, dass dort Frauen, Kinder, Männer, Menschen  zusammengepfercht in selbst gebauten, improvisierten Zelten hausen. Ohne Schutz vor Wind und Wetter, ohne Schutz vor Kälte, vor Gewalt, vor Krankheiten, fast gänzlich ohne ärztliche Versorgung, mit einem Dixi-Klo á 100 Mann. Ein solcher Ort soll nicht existieren, und er darf schlicht und einfach nicht innerhalb der Europäischen Union existieren. Ich bin überzeugt, dass all diese Menschen ein kultureller Zugewinn sein werden, und dass die einzig humane und auch wirtschaftlich sinnvolle Lösung ist, Migration zu gestatten und zu fördern, Asyl zu gewähren, Grenzen als ein willkürliches Konstrukt zu sehen und den Menschen nicht in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken, egal ob über die eigenen Landesgrenzen oder gar über Kontinente hinweg. Es kann einfach nicht sinnvoll sein, an einem Ort wie Moria Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Angst und Wut zu züchten.

Ich finde es schwer, einen Abschluss zu all diesen Gedanken zu finden, es gibt ja auch keinen, diese Gedanken werden ja gerade erst gedacht und sollen Vieles, aber bloß nicht zu einem Abschluss kommen. Aber der Text sollte es zumindest. Und so überlege ich, wie ich verknappt noch einmal klar machen kann, was ich mir vor allem wünsche, wovon wir meiner Meinung nach mehr brauchen und auf welcher Basis wir unsere Gesellschaft neu denken können – und was gerade eine professionelle Empathin zu dieser Diskussion beitragen kann… In einem Publizistik-Seminar an der Uni Wien haben wir einmal während einer Grundsatzdiskussion erörtert, was die Welt antreibt und zusammenhält. Ich kann mich gar nicht mehr so genau an die „richtige“ Antwort erinnern, es war so etwas wie das „Prinzip der Dualität“, oder so. „Was sagt die Schauspielerin dazu“, fragte mich abschließend der Professor. 

Ich würde heute umso lauter und umso überzeugter sagen: „Was die Welt antreibt und zusammenhält, was dafür sorgen kann, dass diese Welt ein immer noch besserer Ort für uns alle werden wird? Die Liebe.“

 

Verena Altenberger

Verena Altenberger ist österreichische Schauspielerin und Trägerin des Österreichischen Filmpreises, sowie weiterer internationaler Auszeichnungen. Zu ihren erfolgreichsten Filmen zählt das Drogen-Drama "Die beste aller Welten" von Adrian Goiginger.

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Nach der Krise ist nicht vor der Krise