Theologie im Kontext von Corona?!

von Regina Polak

Als im 14. Jahrhundert die Pest ein Drittel der europäischen Bevölkerung hinwegraffte, erlitt der Glaube an einen von Gott gut geordneten Kosmos und mit ihm die Kirche eine erste massive Erschütterung. Wohl versuchte man in dieser Zeit mit Wallfahrten, Ablasshändel und Selbstgeißelungen einen Gott, den man als strafenden Urheber dieser Katastrophe erlebte, zu beruhigen, aber die Ohnmacht der Kirche war angesichts des massenhaften Todes groß. Danach begann im Kampf gegen den Tod der Aufstieg von Naturwissenschaft und Medizin. So beschreibt die Bildungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer in ihrem Buch „Das Leben als letzte Gelegenheit“ die Folgen der Pest.

Heute dominieren bei der Frage, wie man Corona und die gesellschaftlichen ökonomischen und politischen Folgen dieser Pandemie bekämpft, Naturwissenschaft, Medizin und Sozialwissenschaft. Den Kirchen, wird von vielen Zeitgenoss*innen vielleicht noch ihr Beitrag zu sozialer Nachbarschaftshilfe und privatem Trost gestattet. Politische oder ökonomische Einmischungen werden, insbesondere von den intellektuellen Eliten, eher skeptisch beäugt. Das ist auch verständlich: Mit ihren gottesdienstlichen Versammlungen sind sie Virenverbreiter*innen, die Missbrauchsskandale und die empirisch nachweisbare Tendenz zu autoritären Einstellungen machen religiöse Menschen verdächtig.

Was also kann und soll Theologie – die wissenschaftliche Reflexion des (christlichen) Glaubens – da beitragen? Kann sie in einer säkularen Gesellschaft den Anspruch erheben, systemrelevant zu sein?

Auf diese Frage gibt es zunächst eine pragmatische Antwort: Die Mehrheit der Menschen weltweit gehört einer religiösen Gemeinschaft an. Auch in Europa glauben nach wie vor zwei Drittel der Menschen an Gott. Religiöse Gemeinschaften sind also aus soziologischer und politikwissenschaftlicher Perspektive „Key-Player“ im Kampf gegen die Seuche und deren Auswirkungen. Sie engagieren sich für ihre Nachbar*innen, trösten und geben Hoffnung, stehen bei in Leid und Trauer, motivieren zum Engagement.

Als Legitimation, zu der laut Charles Taylor der Glaube in einem säkularen Kontext verpflichtet ist, genügt eine solche Sicht freilich nicht. Denn die Hoffnung könnte Vertröstung sein, für das soziale Engagement muss man sich mit dem Inhalt nicht beschäftigen. Hauptsache, es wirkt, könnte man sagen. Die Frage ist: Können Religion und Theologie auch intellektuell etwas beitragen?

Unzählige Belege für die intellektuellen Beiträge der Theologie könnte hier nun allein für die monotheistischen Traditionen anführen: Konzepte von Recht und Gerechtigkeit, deren Maßstab das Leben der Marginalisierten, vor allem der Armen in Gesellschaft und Welt ist; Reflexion von Endlichkeit, Leid und Tod; Perspektiven gebildeter Hoffnung und Kritik apokalyptischer Weltbilder; Kriteriologien für ethische Dilemmata wie die Triage.

Religionen sind schon lange nicht mehr die einzigen Akteur*innen, die solche Beiträge erbringen. Aber wie Philosophie, Ethik oder säkulare Weltbilder prägen sie mit ihren Ideen und Weltdeutungen menschliches Handeln und stellen damit auch Weichen, wie wir mit der Corona-Katastrophe zurechtkommen. Weltdeutungen sind so vielleicht nicht als unmittelbar systemrelevant zu erkennen, weil sie über das unmittelbare biologische Überleben hinausgehen. Aber langfristig sind stellen sie die entscheidenden Weichen für die Fülle der Entscheidungen, die während und nach Corona anstehen.

Ein Beispiel: Aus katholischer Sicht besteht die zentrale politische Aufgabe der Kirche darin, die Transzendenz des Menschen zu schützen. Die Theologie hält damit die Frage in Erinnerung: Was oder wer ist der Mensch? Ist er mehr als ein Virenträger, Datenspeicher, Wirtschaftsfaktor, Datenproduzent? Und wenn ja: Worin besteht dieses Mehr?

Die Transzendenz des Menschen zu schützen besteht darin, immer wieder daran zu erinnern, dass er weder durch Staat und Politik, Gesellschaft und Wissenschaft, Ideologien oder Institutionen, auch nicht durch die Kirche zur Gänze erfasst oder gar beherrscht werden darf. Darin bestehen seine Würde und die Gleichheit aller Menschen.

Corona macht sichtbar, dass diese Transzendenz bedroht ist. Vor dem Virus sind eben nicht alle Menschen gleich: Er wird die Ärmsten treffen, national, global. Migrant*innen werden unterschieden in nützliche (Pflegerinnen) und weniger nützliche (Flüchtlinge). Demnächst wird die Frage auftauchen, wer die Schulden zahlt und ob man die ältere Bevölkerung um den Preis des Wohlstands schützen muss oder nicht doch besser wegsperrt.

Die Transzendenz des Menschen hat noch eine andere Dimension: Sie erinnert an „Gott“, der aus christlicher Sicht der Herr der Geschichte ist. Säkular formuliert: Die Zukunft ist offen, der Mensch ist frei, um des Menschen willen muss ein unbenennbarer „Platz“ freigehalten werden, der ihm diese Offenheit und Freiheit sichert. Ohne diese drohen Verzweiflung und schicksalsergebene Unterwerfung unter die zu erwartenden soziopolitischen und sozioökonomischen Dynamiken. 

Regina Polak

Assoc.-Prof. Dr. Regina Polak, MAS ist Praktische Theologin und Leiterin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Religion im Kontext von Migration, Werteforschung und interreligiöser Dialog.

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Dafür kämpfen, nicht immer wieder ums Überleben kämpfen zu müssen