Bürgerräte: Antwort auf die Krise der repräsentativen Demokratie

von Philippe Narval

Pandemien erfordern kollektives Handeln und das disziplinierte Vorgehen von Gesellschaften. Hierarchische Entscheidungsstrukturen ergeben in Notsituationen wie bei COVID-19 Sinn, genauso wie die Feuerwehr eine klare Befehlskette braucht, um einen Brand schnell zu löschen.

Die größte Herausforderung, die wir im 21. Jahrhundert zu bewältigen haben – die Klimakrise – ist jedoch ganz anders als COVID-19 geartet.  Denn es handelt sich bei ihr um eine hochkomplexe, systemisch verzahnte Problemstellung, die sich nicht mit linearen und statistisch berechenbaren Methoden „eindämmen“ lässt.

Für die Klimakrise gibt es keine einzige allgemein gültige Lösungsstrategie. Im Gegenteil: Sie erfordert eine Vielfalt an regional und kulturell angepassten Strategien, um im Zeitalter des Anthropozäns zu über-leben.

Die Politik, die Verwaltung und ihre Institutionen sind mit der Klimakrise überfordert, die bestehenden Entscheidungsmechanismen unserer repräsentativen Demokratie in Anbetracht der Lage unzureichend. Insbesondere die Krise der repräsentativen Demokratie wurde schon oft genug analysiert. Es genügt in diesem Kontext darauf hinzuweisen, dass eine rein auf vierjährige Wahlzyklen ausgerichtete Politik sich schwertut, langfristige Entscheidungen zu treffen, die die Interessen kommender Generationen und des Planeten berücksichtigt. Besser organisierte und finanzierte Interessensgruppen haben einen weitaus größeren Einfluss auf Politikentscheidungen von Ministerien und Parlamenten als die Wählerschaft.

Wie wir in unserer Demokratie entscheiden, hat aber einen großen Einfluss darauf, ob wir die eine dringende anstehende Transformation unserer Gemeinschaft meistern oder nicht. Wir wissen sowohl aus der Geschichte, als auch aus der spieltheoretischen Forschung, dass Menschen unter gewissen Rahmenbedingungen bereit sind, im Interesse zukünftiger Generationen zu entscheiden, auch wenn sie dafür in der Gegenwart Opfer bringen müssen. Was es braucht, sind Rahmenbedingungen, um Entscheidungen dieser Art zu ermöglichen. Wahlen alleine sind dafür unzureichend, weil sie der Emotionalisierung unterliegen und die Interessen des Hier & Jetzt gegen die einer nachhaltigeren Zukunft ausspielen.

Ohne unsere repräsentative Demokratie als gesamtes über Bord werfen zu wollen, brauchen wir dringend eine Erneuerung unserer demokratischen Entscheidungsfindungsprozesse. Bürgerräte bieten sich als eine bereits erprobte innovative Methode an. Per Losverfahren ausgewählt, repräsentativ für die Bevölkerung und unter Einbeziehung von ExpertInnen, können die Bürger und Bürgerinnen in diesen Gremien ohne Einflussnahme von Lobbys mithelfen, eine zukunftsfähige Klimaschutzstrategie zu erarbeiten. Was in Österreich derzeit noch schwer vorstellbar scheinen mag, wurde anderswo in Europa schon erfolgreich umgesetzt.

Irland als Vorreiter

Die konservative Regierung Irlands war die erste Europas, die 2012 einen Bürgerrat einrichtete, um dem steigenden Vertrauensverlust in die Politik etwas entgegenzuhalten und bei wichtigen Reformvorhaben zu besseren Entscheidungen zu kommen. Dieser Rat aus zufällig ausgelosten Bürgern stellt in seiner Zusammensetzung ein möglichst gutes Abbild der Bevölkerung dar. Bei der Auslosung werden deshalb Kriterien wie Geschlecht, Alter, Einkommensstatus und Wohnort berücksichtigt. Die sogenannte "Citizens' Assembly" tagt unter einem unabhängigen Vorsitz und greift bei der Entscheidungsfindung auf unabhängige wissenschaftliche Experten zurück. Erfahrene Moderatoren und Moderatorinnen stellen sicher, dass alle Meinungen Gehör finden.

Das irische Beispiel zeigt, dass das Bild des Wutbürgers, der in Onlineforen herumstänkert, nur begrenzt die Realität abbildet. Konfliktgeladene Themen wie das Thema Klimaschutz, die die Politik alleine nicht entscheiden kann oder will, erscheinen in einem anderen Licht, wenn Bürger sie ohne Hintergedanken und Beeinflussung von Interessengruppen beleuchten.

Ein Bürgerrat stellt dabei keine Konkurrenz zur Arbeit der Parlamente dar, denn die Empfehlungen der Bürger sind noch weit entfernt von konkreten und durchdachten Gesetzesentwürfen. Im Gegenteil: Am Ende wird der Politik mit sachlichen, fundierten und kompromissbereiten Vorgaben eine Hilfestellung geliefert. Die Bürger werden am Ende zu Verbündeten für reformwillige Entscheidungsträger. Die Ergebnisse aus Irland weisen aber auch den Weg zu einer aufgeklärten Gegenöffentlichkeit, die der vorrangig konfliktorientierten Fokussierung vieler Medien und der Polarisierung in sozialen Netzwerken etwas Konstruktives entgegenhält.

Bürgerräte in Frankreich und Großbritannien

Mittlerweile haben auch Frankreich und Großbritannien erkannt, dass Bürgerräte eine sinnvolle Hilfestellung in der Erarbeitung tragfähiger Klimaschutzstrategien bieten können. Ein Klima-Bürgerrat in Frankreich wird bis April 2020 an sieben Wochenenden tagen. Er soll Vorschläge formulieren, wie Frankreich seine Treibhausgasemissionen bis 2030 um 40 Prozent reduzieren kann. Bei der Auftaktveranstaltung räumte Präsident Macron ein, Fehler bei der Einführung einer CO2-Steuer gemacht zu haben. Die Gelbwestenproteste waren das Ergebnis. Diesmal will man es besser machen und die Vorschläge des Bürgerrats zu einer Volksabstimmung bringen.

Parallel dazu befasst sich im Auftrag des englischen Parlaments eine "Climate Assembly UK" mit 110 repräsentativ ausgewählten Bürgern mit der Frage, wie England bis 2050 klimaneutral werden kann. Viel vom Erfolg des Modells Bürgerrat wird in beiden Fällen davon abhängen, wie die politischen Eliten am Ende mit den Empfehlungen ihrer Bürger umgehen. Ein echter Anfang hin zur Erneuerung unserer Demokratien ist aber getan.

Könnte nicht ein nationaler Bürgerrat zur Klimakrise ein Schlüsselprojekt der Bundesregierung werden, um der Bevölkerung ein stärkeres Gehör zu verschaffen und gleichzeitig zukunftsorientierte Kompromisse zu ermöglichen, die auch mitgetragen werden? Nachdem im Regierungsprogramm zum Thema Demokratie und Bürgerbeteiligung nichts Substanzielles aufscheint, wird es an der Zivilgesellschaft liegen, der Forderung nach der Weiterentwicklung demokratischer Entscheidungsprozesse Ausdruck zu verleihen - und selbst die Initiative zu ergreifen. Vor allem nach der Coronakrise, wäre es wichtig, ein Zeichen der Ermächtigung und des Vertrauens in die Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zu setzen, um die größte Herausforderung unser Zeit zu meistern.

Philippe Narval

Philippe Narval ist Generalsekretär des Europäischen Forums Alpbach.

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